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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. III. Band.

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Ach Von einem unwiderstehlichen Triebe, gegen Süden zu Pilgern, ergriffen
worden. Daß die Herren S. Müller und E. Passavant, zwei ernsthafte und
patriotische Männer, welche jene Wanderlust nicht theilten, sondern in Frankfurt
blieben, von ihrem Standpunkte aus gegen eine Berufung des Abgeordneten-
tags waren, weil sie glaubten, derselbe werde diesen Standpunkt nicht accepti"
ren, verdient keinerlei Tadel, wohl aber muh es ernstlich gerügt werden, daß
ein unitarischer Ausschuß zwei Föderalisten an seine Spitze stellt und dadurch
es gradezu unmöglich macht, daß die Geschäfte im Sinne des Ausschusses und
seiner Auftraggeber geführt werden. Wir heben diesen Punkt auf das nach¬
drücklichste hervor, weil er einen neuen Beleg liefert für eine große Schwäche
unseres politischen Lebens. Wir können nämlich nicht unterscheiden zwischen
dem persönlichen Feind und dem sachlichen Gegner. Entweder behalten wir
im Auge, daß unser Gegner nicht unser Feind ist, und dann vergessen wir über
dem Umstand, daß er ein Mensch ist, den weiteren Umstand, daß er trotz alle-
dem unser politischer Gegner ist, und daß daher, wenn er auch noch so sehr
unser menschliches und unser persönliches Vertrauen besitzt, wir ihm nicht das
politische Vertrauen schenken und ihm nicht politische Vertrauensmandate zu¬
wenden dürfen. Oder aber, wir identificiren -- und das geschieht in Augen¬
blicken der Aufregung und Gereiztheit -- die Begriffe Gegner und Feind und
vergessen über dem Umstand, daß jemand unser politischer Gegner ist, den wei¬
teren Umstand, daß er ein Mensch ist. oft gewiß ein recht braver, kenntnißreicher,
tüchtiger Mensch, daß wir ihn deshalb nicht als persönlichen Feind hassen und
ihm zwar nicht unser politisches, wohl aber unser menschliches und persönliches
Vertrauen zuwenden dürfen. Jene Unterscheidung wurde unsererseits vergessen,
als man die Herren Müller und Passavant an die Spitze der Geschäfte stellte.
Sie wurde auf der anderen Seite nach der entgegengesetzten Richtung vergessen,
als die föderalistisch-particularistische Presse von Frankfurt den Rednern der
Majorität vom 20. Mai 1866. den Herren Schulze-Delitzsch, Braun. Bluntschli.
Volk, die man im Saalbau durch Donner- oder Mordschläge vergeblich hatte zu
consterniren gesucht, nachgehends das Standrecht, den Galgen, den Strick, oder
ein sonstiges gedeihliches Lebensende, blos ihrer politischen Gesinnung halber,
anwünschte. Am interessantesten war darin das frankfurter Witzblatt die Laterne,
welches vorschlug, den Abg. Dr. Braun, weil er auf dem Abgeordnetentag den
ihn anbrüllenden Geanern kaltblütig ein paar derbe Wahrheiten in das Gesicht
geschleudert hatte, in den Kochbrunnen zu Wiesbade" zu werfen, um den treuen
Nassauern von ihm eine Fleischbrühe zu kochen. Infolge jenes incorrecten Ver¬
fahrens also konnte der Abgeordnetentag am 4. August in Braunschweig nicht
zusammentreten, um daselbst die ihm zugedachten Functionen eines Vorparlaments
auszuüben.

An seiner Stelle trat der Ausschuß des Nationalvereins zusammen, ohne


Ach Von einem unwiderstehlichen Triebe, gegen Süden zu Pilgern, ergriffen
worden. Daß die Herren S. Müller und E. Passavant, zwei ernsthafte und
patriotische Männer, welche jene Wanderlust nicht theilten, sondern in Frankfurt
blieben, von ihrem Standpunkte aus gegen eine Berufung des Abgeordneten-
tags waren, weil sie glaubten, derselbe werde diesen Standpunkt nicht accepti«
ren, verdient keinerlei Tadel, wohl aber muh es ernstlich gerügt werden, daß
ein unitarischer Ausschuß zwei Föderalisten an seine Spitze stellt und dadurch
es gradezu unmöglich macht, daß die Geschäfte im Sinne des Ausschusses und
seiner Auftraggeber geführt werden. Wir heben diesen Punkt auf das nach¬
drücklichste hervor, weil er einen neuen Beleg liefert für eine große Schwäche
unseres politischen Lebens. Wir können nämlich nicht unterscheiden zwischen
dem persönlichen Feind und dem sachlichen Gegner. Entweder behalten wir
im Auge, daß unser Gegner nicht unser Feind ist, und dann vergessen wir über
dem Umstand, daß er ein Mensch ist, den weiteren Umstand, daß er trotz alle-
dem unser politischer Gegner ist, und daß daher, wenn er auch noch so sehr
unser menschliches und unser persönliches Vertrauen besitzt, wir ihm nicht das
politische Vertrauen schenken und ihm nicht politische Vertrauensmandate zu¬
wenden dürfen. Oder aber, wir identificiren — und das geschieht in Augen¬
blicken der Aufregung und Gereiztheit — die Begriffe Gegner und Feind und
vergessen über dem Umstand, daß jemand unser politischer Gegner ist, den wei¬
teren Umstand, daß er ein Mensch ist. oft gewiß ein recht braver, kenntnißreicher,
tüchtiger Mensch, daß wir ihn deshalb nicht als persönlichen Feind hassen und
ihm zwar nicht unser politisches, wohl aber unser menschliches und persönliches
Vertrauen zuwenden dürfen. Jene Unterscheidung wurde unsererseits vergessen,
als man die Herren Müller und Passavant an die Spitze der Geschäfte stellte.
Sie wurde auf der anderen Seite nach der entgegengesetzten Richtung vergessen,
als die föderalistisch-particularistische Presse von Frankfurt den Rednern der
Majorität vom 20. Mai 1866. den Herren Schulze-Delitzsch, Braun. Bluntschli.
Volk, die man im Saalbau durch Donner- oder Mordschläge vergeblich hatte zu
consterniren gesucht, nachgehends das Standrecht, den Galgen, den Strick, oder
ein sonstiges gedeihliches Lebensende, blos ihrer politischen Gesinnung halber,
anwünschte. Am interessantesten war darin das frankfurter Witzblatt die Laterne,
welches vorschlug, den Abg. Dr. Braun, weil er auf dem Abgeordnetentag den
ihn anbrüllenden Geanern kaltblütig ein paar derbe Wahrheiten in das Gesicht
geschleudert hatte, in den Kochbrunnen zu Wiesbade» zu werfen, um den treuen
Nassauern von ihm eine Fleischbrühe zu kochen. Infolge jenes incorrecten Ver¬
fahrens also konnte der Abgeordnetentag am 4. August in Braunschweig nicht
zusammentreten, um daselbst die ihm zugedachten Functionen eines Vorparlaments
auszuüben.

An seiner Stelle trat der Ausschuß des Nationalvereins zusammen, ohne


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_285587/332>, abgerufen am 22.07.2024.