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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. III. Band.

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thätiger Zustände als das größte Unglück erscheinen zu lassen, welches die ab¬
gespannte ruhebedürftige Welt betreffen könnte. Und doch fehlte die Freude
an dem durch blutige und begeisterte Arbeit errungenen Frieden: Zwar die
Quellen des Erwerbes öffneten sich rasch, sie wurden mit Eifer ausgebeutet,
der Besitz mehrte sich mit der gesteigerten Thätigkeit, das äußere Wohlsein
nahm zu, aber das Behagen, das Gefühl der Sicherheit fehlten.

Die heilige Allianz war, sobald die realen Machtinteressen wieder in ihr Recht
eintraten, in ihren Grundfesten erschüttert worden; die Wirkungen der Politik Can-
nings hatten sich wie ein frischer belebender Luftstrom über die ganze civilisirte
Welt verbreitet; die Aufregung in Belgien nahm mehr und mehr einen den wiener
Verträgen feindlichen Charakter an, und die unsinnige Reactionspolitik Karl
des Zehnten erregte auch in den Cabineten die ernstesten Bedenken. Bis zu
dem Beginn der aus diesen Verhältnissen sich ergebenden Krisis reicht der siebente
Band von Gervinus großem Geschichtswerk. Der achte Band umfaßt nach
einer ausführlichen Betrachtung über die geistigen und literarischen Zustände
des dritten Jahrzehnts die Geschichte der Julirevolution mit ihren unmittelbaren
Folgen, der belgischen Revolution, dem Aufstande in Warschau, den Bewegungen
in Norddeutschland, Griechenland, Italien und Brasilien. Die Begebenheiten
werden fortgeführt in Frankreich bis zur Gründung des Julikönigthums. Für
Belgien schließt der Band mit der vom belgischen Congresse ausgesprochenen
Ausschließung des Hauses Oranien ab. Der weitere Verlauf der Begebenheiten,
namentlich die Einmischung der Diplomatie, ist dem folgenden Bande vorbe¬
halten. Die Geschichte der polnischen Revolution wird bis zum Rücktritt Chlo-
Pickis und der Unabhängigkcitserklärung fortgeführt. So enthält der vorliegende
Band vielfach nur die Einleitungen zu den entscheidenden Begebenheiten. Der
Abschluß ist überall nur ein vorläufiger und um so gerechtfertigter der Wunsch,
daß es dem Verfasser vergönnt sein möge, recht bald die abgebrochenen Fäden
wieder aufzunehmen und bis zur Lösung der eingeleiteten Verwickelungen fort¬
zuführen.

Von hohem Interesse ist die zusammenhängende Darstellung der geistigen
Bewegungen/die das dritte Jahrzehnt des Jahrhunderts erfüllen. Besonders
ausfällig ist hier die Gleichartigkeit und innere Verwandtschaft der Bestrebungen
in den verschiedenen Culturstaaten. Das Verhältniß ist anders, wie im vorigen
Jahrhundert, wo, nachdem eine gewisse geistige Strömung die Anschauungs- und
Denkweise eines Volkes umgewandelt hat, diese neue Weltanschauung auf dem
Wege geistiger Propaganda sich über das ganze Gebiet der Civilisation ver¬
breitete. Die Völker sind sich näher gerückt. Die Periode allgemeinen Um¬
schwungs, die das achtzehnte von dem neunzehnten Jahrhundert trennt, hat
einen Keim der Gemeinschaft in die verschiedenen Völker gelegt, der an den
verschiedenen Brennpunkten der Civilisation in gleicher Richtung wirkt; man


thätiger Zustände als das größte Unglück erscheinen zu lassen, welches die ab¬
gespannte ruhebedürftige Welt betreffen könnte. Und doch fehlte die Freude
an dem durch blutige und begeisterte Arbeit errungenen Frieden: Zwar die
Quellen des Erwerbes öffneten sich rasch, sie wurden mit Eifer ausgebeutet,
der Besitz mehrte sich mit der gesteigerten Thätigkeit, das äußere Wohlsein
nahm zu, aber das Behagen, das Gefühl der Sicherheit fehlten.

Die heilige Allianz war, sobald die realen Machtinteressen wieder in ihr Recht
eintraten, in ihren Grundfesten erschüttert worden; die Wirkungen der Politik Can-
nings hatten sich wie ein frischer belebender Luftstrom über die ganze civilisirte
Welt verbreitet; die Aufregung in Belgien nahm mehr und mehr einen den wiener
Verträgen feindlichen Charakter an, und die unsinnige Reactionspolitik Karl
des Zehnten erregte auch in den Cabineten die ernstesten Bedenken. Bis zu
dem Beginn der aus diesen Verhältnissen sich ergebenden Krisis reicht der siebente
Band von Gervinus großem Geschichtswerk. Der achte Band umfaßt nach
einer ausführlichen Betrachtung über die geistigen und literarischen Zustände
des dritten Jahrzehnts die Geschichte der Julirevolution mit ihren unmittelbaren
Folgen, der belgischen Revolution, dem Aufstande in Warschau, den Bewegungen
in Norddeutschland, Griechenland, Italien und Brasilien. Die Begebenheiten
werden fortgeführt in Frankreich bis zur Gründung des Julikönigthums. Für
Belgien schließt der Band mit der vom belgischen Congresse ausgesprochenen
Ausschließung des Hauses Oranien ab. Der weitere Verlauf der Begebenheiten,
namentlich die Einmischung der Diplomatie, ist dem folgenden Bande vorbe¬
halten. Die Geschichte der polnischen Revolution wird bis zum Rücktritt Chlo-
Pickis und der Unabhängigkcitserklärung fortgeführt. So enthält der vorliegende
Band vielfach nur die Einleitungen zu den entscheidenden Begebenheiten. Der
Abschluß ist überall nur ein vorläufiger und um so gerechtfertigter der Wunsch,
daß es dem Verfasser vergönnt sein möge, recht bald die abgebrochenen Fäden
wieder aufzunehmen und bis zur Lösung der eingeleiteten Verwickelungen fort¬
zuführen.

Von hohem Interesse ist die zusammenhängende Darstellung der geistigen
Bewegungen/die das dritte Jahrzehnt des Jahrhunderts erfüllen. Besonders
ausfällig ist hier die Gleichartigkeit und innere Verwandtschaft der Bestrebungen
in den verschiedenen Culturstaaten. Das Verhältniß ist anders, wie im vorigen
Jahrhundert, wo, nachdem eine gewisse geistige Strömung die Anschauungs- und
Denkweise eines Volkes umgewandelt hat, diese neue Weltanschauung auf dem
Wege geistiger Propaganda sich über das ganze Gebiet der Civilisation ver¬
breitete. Die Völker sind sich näher gerückt. Die Periode allgemeinen Um¬
schwungs, die das achtzehnte von dem neunzehnten Jahrhundert trennt, hat
einen Keim der Gemeinschaft in die verschiedenen Völker gelegt, der an den
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_285587/311>, abgerufen am 22.07.2024.