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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. III. Band.

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fängt an, ohne Verabredung, ohne ausdrückliche Verständigung sich zu verstehen.
Die Menschheit sondert sich nach Interessen; die Interessen consolidiren sich und
treten als Gesammtheiten gegen einander. Während die Cabinete sich vereinigen,
um in den liberalen Ideen einen gemeinsamen Feind zu bekämpfen, wachsen
grade durch diese Allianz die Kräfte, die man vernichten will, zu einer geschlos¬
senen Macht zusammen, die auch ohne Verschwörung einheitlich wirkt und
die zugleich den Angriffen der Cabinetspolitik unfaßbar ist, weil sie ohne
sichtbare politische Erfolge in den Seelen der Menschen lebt und kaum des
geschriebenen Wortes bedarf, um sich weiter fortzupflanzen. Wirksamer als von
den Regierungen wird diese' Macht eine Zeit lang von einer andern, wie sie,
geistigen Gegenströmung bekämpft, der Romantik. Auch diese Richtung, obwohl
in Deutschland entstanden, nimmt bald einen universellen Charakter an, einen
um so universelleren, je weniger sie sich auf einen bestimmten Gedankengehalt
zurückführen läßt, je mannigfacher der Farbenglanz ist, den sie über ihre Ideal¬
welt ausbreitet. Wie aber in dieser Unbestimmtheit, Unfaßlichkeit, die Quelle
ihrer Allgemeinheit liegt, so wird sie auch die Ursache ihrer Zersplitterung
in die entgegengesetzten, zum großen Theil der Cabinetspolitik feindlichen Rich¬
tungen. Hier eine Stütze'der Reaction, assimilirt sie sich dort den liberalen
Ideen; hier in leere Phantastereien versunken, vertieft sie sich dort in ernste
Studien, in das Leben einer vergangenen Welt, und regt, wo sie selbst zum
Schaffen ohnmächtig ist, die größten Kräfte an, das wissenschaftliche und geistige
Leben der Gegenwart aus dem Born der Vergangenheit zu befruchten; hier
spielend und tändelnd, dort narkotisch sich berauschend, und weltverachtend in
ein wesenloses aber farbenschimmerndes Phantasieland sich flüchtend, führt sie
dort dem modernen Gedankenkreise echtes Gold aus einer lange vergessenen
Vergangenheit zu. Und als die Richtung in Deutschland bereits aufgehört
hatte eine geschlossene, greifliche Macht zu sein und nur in den Anregungen,
die sie nach den verschiedensten Seiten hin gegeben hatte, fortwirkte, trat sie in
Frankreich mit gesteigerter Kraft auf, umwälzend und umschaffend auf dem Ge¬
biete der Kunst, den Geschmack nach sich bildend, und bald auf das politische Gebiet
übergehend. Hier fällt besonders ihre Doppelartigkeit, so wie die innere Um¬
wandlung, die sie in vielen ihrer einzelnen Vertreter erfahren hat, auf. So
besonders in Chateaubriand, der sein Leben lang zwischen den entgegengesetztesten
Principien hin und her schwankte, sich gleichzeitig begeisternd für die Freiheit
und die Mächte, deren Wesen grade in dem Kampfe gegen die Freiheit beruhte;
so in Lamartine, der. ohne! feiner Iatur je untreu zu werden, ohne jeden ge¬
waltsamen Sprung den Uebergang vom Legitimismus zum Republikanismus
vollzog; so in Victor Hugo, in dem derselbe Wandel wie in jenem, aber in
den schroffsten Gegensätzen ohne vermittelnde Uebergänge uns entgegentritt.
So tritt die Macht, die berufen schien, das System der Reaction zu stützen


fängt an, ohne Verabredung, ohne ausdrückliche Verständigung sich zu verstehen.
Die Menschheit sondert sich nach Interessen; die Interessen consolidiren sich und
treten als Gesammtheiten gegen einander. Während die Cabinete sich vereinigen,
um in den liberalen Ideen einen gemeinsamen Feind zu bekämpfen, wachsen
grade durch diese Allianz die Kräfte, die man vernichten will, zu einer geschlos¬
senen Macht zusammen, die auch ohne Verschwörung einheitlich wirkt und
die zugleich den Angriffen der Cabinetspolitik unfaßbar ist, weil sie ohne
sichtbare politische Erfolge in den Seelen der Menschen lebt und kaum des
geschriebenen Wortes bedarf, um sich weiter fortzupflanzen. Wirksamer als von
den Regierungen wird diese' Macht eine Zeit lang von einer andern, wie sie,
geistigen Gegenströmung bekämpft, der Romantik. Auch diese Richtung, obwohl
in Deutschland entstanden, nimmt bald einen universellen Charakter an, einen
um so universelleren, je weniger sie sich auf einen bestimmten Gedankengehalt
zurückführen läßt, je mannigfacher der Farbenglanz ist, den sie über ihre Ideal¬
welt ausbreitet. Wie aber in dieser Unbestimmtheit, Unfaßlichkeit, die Quelle
ihrer Allgemeinheit liegt, so wird sie auch die Ursache ihrer Zersplitterung
in die entgegengesetzten, zum großen Theil der Cabinetspolitik feindlichen Rich¬
tungen. Hier eine Stütze'der Reaction, assimilirt sie sich dort den liberalen
Ideen; hier in leere Phantastereien versunken, vertieft sie sich dort in ernste
Studien, in das Leben einer vergangenen Welt, und regt, wo sie selbst zum
Schaffen ohnmächtig ist, die größten Kräfte an, das wissenschaftliche und geistige
Leben der Gegenwart aus dem Born der Vergangenheit zu befruchten; hier
spielend und tändelnd, dort narkotisch sich berauschend, und weltverachtend in
ein wesenloses aber farbenschimmerndes Phantasieland sich flüchtend, führt sie
dort dem modernen Gedankenkreise echtes Gold aus einer lange vergessenen
Vergangenheit zu. Und als die Richtung in Deutschland bereits aufgehört
hatte eine geschlossene, greifliche Macht zu sein und nur in den Anregungen,
die sie nach den verschiedensten Seiten hin gegeben hatte, fortwirkte, trat sie in
Frankreich mit gesteigerter Kraft auf, umwälzend und umschaffend auf dem Ge¬
biete der Kunst, den Geschmack nach sich bildend, und bald auf das politische Gebiet
übergehend. Hier fällt besonders ihre Doppelartigkeit, so wie die innere Um¬
wandlung, die sie in vielen ihrer einzelnen Vertreter erfahren hat, auf. So
besonders in Chateaubriand, der sein Leben lang zwischen den entgegengesetztesten
Principien hin und her schwankte, sich gleichzeitig begeisternd für die Freiheit
und die Mächte, deren Wesen grade in dem Kampfe gegen die Freiheit beruhte;
so in Lamartine, der. ohne! feiner Iatur je untreu zu werden, ohne jeden ge¬
waltsamen Sprung den Uebergang vom Legitimismus zum Republikanismus
vollzog; so in Victor Hugo, in dem derselbe Wandel wie in jenem, aber in
den schroffsten Gegensätzen ohne vermittelnde Uebergänge uns entgegentritt.
So tritt die Macht, die berufen schien, das System der Reaction zu stützen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_285587/312>, abgerufen am 22.07.2024.