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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. III. Band.

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ein wohlverdienter Erwerb, den wir jetzt nutzbar macken; wir werden uns
zwar noch unter einander darüber streiten, aber wir wollen uns von keinem
unserer Nachbarn stören lassen.

Diese Auffassung ist den Deutschen allgemein, ihr Herren in Frankreich.




Gervinus und die deutsche Frage.

Gervinus Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts seit den wiener Verträgen. Achter
Band. Leipzig, Verlag von Wilhelm Engelmann. 1866.

Nach fünfzigjähriger Geltung sahen sich die wiener Verträge im Jahre 1830
von der Bewegung Frankreichs in ihrem Bestände bedroht. Zwar war
auch die Periode von 1815 bis zur Julirevolution der Welt keineswegs in un¬
getrübter Ruhe verflossen! aber die großen umgestaltenden Begebenheiten hatten
den eigentlichen Kern des civilisirten Europa unberührt gelassen. Die große
französische Revolution setzte ihre Reise um die Welt fort, und verbreitete ihre
späten Nachwirkungen nach Osten und nach Westen über die Lander, die, an
den Grenzen der civilisirten Welt gelegen, aus der Barbarei zu einem höhern
Culturzustande sich emporzuarbeiten bemüht waren. Griechenland Hatte das
türkische. Südamerika das spanische Joch abgeschüttelt, ohne daß ihnen zugleich
mit der mühsam errungenen Selbständigkeit die staatenbildende Kraft zu Theil
geworden wäre, das erste Erzeugniß der Cultur und zugleich die Bedingung
des Fortschreitens zu einem freieren und höheren Civilisationszustande. -- In
den romanischen Staaten des südlichen Europa dauerten die fieberhaften Zuck¬
ungen der Revolution fort, zu schwach, um das Joch des Despotismus abzu¬
werfen, gefährlich genug, um den ausschweifendsten Reactionsgelüsten einen
Borwand zu verdoppeltem Drucke zu bieten.

Indessen der europäische Friede war durch diese Verwickelungen nickt ge¬
stört, kaum bedroht worden. Selbst der Krieg Rußlands gegen die Türkei, so
schmerzlich ein Theil der Mächte auch das rücksichtslose Vorgehen der Czaren
empfand, rief nicht einmal die ernsthafte Befürchtung einer Gefährdung des
Weltfriedens hervor; das Friedensbedürfniß nach der langen aufreibenden Pe¬
riode der Revolutionskriege war zu groß, um nicht jede Wiederkehr gewalt-


ein wohlverdienter Erwerb, den wir jetzt nutzbar macken; wir werden uns
zwar noch unter einander darüber streiten, aber wir wollen uns von keinem
unserer Nachbarn stören lassen.

Diese Auffassung ist den Deutschen allgemein, ihr Herren in Frankreich.




Gervinus und die deutsche Frage.

Gervinus Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts seit den wiener Verträgen. Achter
Band. Leipzig, Verlag von Wilhelm Engelmann. 1866.

Nach fünfzigjähriger Geltung sahen sich die wiener Verträge im Jahre 1830
von der Bewegung Frankreichs in ihrem Bestände bedroht. Zwar war
auch die Periode von 1815 bis zur Julirevolution der Welt keineswegs in un¬
getrübter Ruhe verflossen! aber die großen umgestaltenden Begebenheiten hatten
den eigentlichen Kern des civilisirten Europa unberührt gelassen. Die große
französische Revolution setzte ihre Reise um die Welt fort, und verbreitete ihre
späten Nachwirkungen nach Osten und nach Westen über die Lander, die, an
den Grenzen der civilisirten Welt gelegen, aus der Barbarei zu einem höhern
Culturzustande sich emporzuarbeiten bemüht waren. Griechenland Hatte das
türkische. Südamerika das spanische Joch abgeschüttelt, ohne daß ihnen zugleich
mit der mühsam errungenen Selbständigkeit die staatenbildende Kraft zu Theil
geworden wäre, das erste Erzeugniß der Cultur und zugleich die Bedingung
des Fortschreitens zu einem freieren und höheren Civilisationszustande. — In
den romanischen Staaten des südlichen Europa dauerten die fieberhaften Zuck¬
ungen der Revolution fort, zu schwach, um das Joch des Despotismus abzu¬
werfen, gefährlich genug, um den ausschweifendsten Reactionsgelüsten einen
Borwand zu verdoppeltem Drucke zu bieten.

Indessen der europäische Friede war durch diese Verwickelungen nickt ge¬
stört, kaum bedroht worden. Selbst der Krieg Rußlands gegen die Türkei, so
schmerzlich ein Theil der Mächte auch das rücksichtslose Vorgehen der Czaren
empfand, rief nicht einmal die ernsthafte Befürchtung einer Gefährdung des
Weltfriedens hervor; das Friedensbedürfniß nach der langen aufreibenden Pe¬
riode der Revolutionskriege war zu groß, um nicht jede Wiederkehr gewalt-


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[0310] ein wohlverdienter Erwerb, den wir jetzt nutzbar macken; wir werden uns zwar noch unter einander darüber streiten, aber wir wollen uns von keinem unserer Nachbarn stören lassen. Diese Auffassung ist den Deutschen allgemein, ihr Herren in Frankreich. Gervinus und die deutsche Frage. Gervinus Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts seit den wiener Verträgen. Achter Band. Leipzig, Verlag von Wilhelm Engelmann. 1866. Nach fünfzigjähriger Geltung sahen sich die wiener Verträge im Jahre 1830 von der Bewegung Frankreichs in ihrem Bestände bedroht. Zwar war auch die Periode von 1815 bis zur Julirevolution der Welt keineswegs in un¬ getrübter Ruhe verflossen! aber die großen umgestaltenden Begebenheiten hatten den eigentlichen Kern des civilisirten Europa unberührt gelassen. Die große französische Revolution setzte ihre Reise um die Welt fort, und verbreitete ihre späten Nachwirkungen nach Osten und nach Westen über die Lander, die, an den Grenzen der civilisirten Welt gelegen, aus der Barbarei zu einem höhern Culturzustande sich emporzuarbeiten bemüht waren. Griechenland Hatte das türkische. Südamerika das spanische Joch abgeschüttelt, ohne daß ihnen zugleich mit der mühsam errungenen Selbständigkeit die staatenbildende Kraft zu Theil geworden wäre, das erste Erzeugniß der Cultur und zugleich die Bedingung des Fortschreitens zu einem freieren und höheren Civilisationszustande. — In den romanischen Staaten des südlichen Europa dauerten die fieberhaften Zuck¬ ungen der Revolution fort, zu schwach, um das Joch des Despotismus abzu¬ werfen, gefährlich genug, um den ausschweifendsten Reactionsgelüsten einen Borwand zu verdoppeltem Drucke zu bieten. Indessen der europäische Friede war durch diese Verwickelungen nickt ge¬ stört, kaum bedroht worden. Selbst der Krieg Rußlands gegen die Türkei, so schmerzlich ein Theil der Mächte auch das rücksichtslose Vorgehen der Czaren empfand, rief nicht einmal die ernsthafte Befürchtung einer Gefährdung des Weltfriedens hervor; das Friedensbedürfniß nach der langen aufreibenden Pe¬ riode der Revolutionskriege war zu groß, um nicht jede Wiederkehr gewalt-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_285587/310>, abgerufen am 22.07.2024.