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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. III. Band.

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das Band zerrissen sei, welches sie bisher an ihren Fürsten geknüpft habe. Nur
darüber kann man noch im Zweifel sein, ob dieser Bruch der Dynastie gelte
oder nur dem einzelnen bisher souveränen Herrn.

Oeffentlich und förmlich ist diese Frage bisher weder in Hannover noch in
Kassel verhandelt worden. Desto lebhafter und allgemeiner wird sie in tausend
Privatgesprächen erörtert. Auch spielte sie doch schon unter der Decke mit, als
am 12. Juli, nachdem die Hauptversammlung vorüber war, in einer Nach¬
besprechung der Hannoveraner ein Mitglied des hauptstädtischen Magistrats den
Antrag stellte, dem landesverwies.nen König in einer Adresse, welche eine De¬
putation zu überbringen hätte, den Wunsch vorzutragen, daß er dem Thron
zu Gunsten seines Sohnes entsage. Der Vorschlag fand gar keine ausdrückliche
Unterstützung, wohl aber lauten und starken Widerspruch. Als der Antragsteller
zugestand, daß man in Ostfriesland allerdings wohl die Einverleibung in Preu¬
ßen vorziehen werde, riefen Stimmen aus Hildesheim, Celle, Osnabrück, Oste-
rode u. f. w.: "Wir auch! wir auch!" Der Vorsitzende v. Bennigsen beendigte
darauf mit einer Gewaltanstrengung die Verhandlung, die sonst zu einer ver¬
frühten Messung der Kräfte zwischen Preußisch- und Hannoverisch-Gesinnten
hätte führen mögen.

Fragt man nach der entsprechenden Stimmung im Volke, so gehen die
Strömungen theils räumlich, theils nach der gesellschaftlichen Stellung ausein¬
ander. Die Residenzstadt möchte natürlich den Hof und die Regierung um kei¬
nen Preis einbüßen. Die Universitätsstadt Göttingen ist vielleicht aus ähn¬
lichen Befürchtungen gegen Annexion. In den alten Provinzen, d. h. vorzugs¬
weise in den Landdrosteien Hannover und Lüneburg, hält die Masse des Volkes
die Loyalität gegen das Welsenhaus noch fest; ihre Väter haben für dieses
Haus gekämpft und gelitten, folglich betrachten sie es als einen Theil ihrer
Erdenaufgabe, desgleichen zu thun. Dagegen verlangt Ostfriesland auf das
entschiedenste, in den preußischen Staatsverband zurückzukehren, dem diploma¬
tische Abmachungen es vor fünfzig Jahren entführt haben. Gleiche Erinnerungen
regen sich in Hildesheim, gleiche Wünsche auch in Osnabrück und Stade nebst
Umgebungen.

Gegen eine Annexion ist natürlich fast der ganze Beamtenstand. Er würde
ja das Capital, mit welchem er arbeitet, die Kunde von Gesetzen und Einrich¬
tungen verlieren, wenn Hannover ohne weiteres preußisch würde. Dafür aber
ist er, Dank den letzten mächtig überredender Ereignissen, auf den Standpunkt
des Bundesstaats vorgerückt, den er bisher dem Nationalverein als eine Art
Hoch- und Landesverrat!) anrechnete. Niemand fordert heutzutage bestimmter
die Verschmelzung des kleinen hannoverschen Heeres mit dem großen preußischen,
als die hannoverschen Beamtenkreise in Civil und Uniform. Die Offiziere nament¬
lich sehnen einen Preußisch-französischen Krieg förmlich herbei, um eine mit jedem
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das Band zerrissen sei, welches sie bisher an ihren Fürsten geknüpft habe. Nur
darüber kann man noch im Zweifel sein, ob dieser Bruch der Dynastie gelte
oder nur dem einzelnen bisher souveränen Herrn.

Oeffentlich und förmlich ist diese Frage bisher weder in Hannover noch in
Kassel verhandelt worden. Desto lebhafter und allgemeiner wird sie in tausend
Privatgesprächen erörtert. Auch spielte sie doch schon unter der Decke mit, als
am 12. Juli, nachdem die Hauptversammlung vorüber war, in einer Nach¬
besprechung der Hannoveraner ein Mitglied des hauptstädtischen Magistrats den
Antrag stellte, dem landesverwies.nen König in einer Adresse, welche eine De¬
putation zu überbringen hätte, den Wunsch vorzutragen, daß er dem Thron
zu Gunsten seines Sohnes entsage. Der Vorschlag fand gar keine ausdrückliche
Unterstützung, wohl aber lauten und starken Widerspruch. Als der Antragsteller
zugestand, daß man in Ostfriesland allerdings wohl die Einverleibung in Preu¬
ßen vorziehen werde, riefen Stimmen aus Hildesheim, Celle, Osnabrück, Oste-
rode u. f. w.: „Wir auch! wir auch!" Der Vorsitzende v. Bennigsen beendigte
darauf mit einer Gewaltanstrengung die Verhandlung, die sonst zu einer ver¬
frühten Messung der Kräfte zwischen Preußisch- und Hannoverisch-Gesinnten
hätte führen mögen.

Fragt man nach der entsprechenden Stimmung im Volke, so gehen die
Strömungen theils räumlich, theils nach der gesellschaftlichen Stellung ausein¬
ander. Die Residenzstadt möchte natürlich den Hof und die Regierung um kei¬
nen Preis einbüßen. Die Universitätsstadt Göttingen ist vielleicht aus ähn¬
lichen Befürchtungen gegen Annexion. In den alten Provinzen, d. h. vorzugs¬
weise in den Landdrosteien Hannover und Lüneburg, hält die Masse des Volkes
die Loyalität gegen das Welsenhaus noch fest; ihre Väter haben für dieses
Haus gekämpft und gelitten, folglich betrachten sie es als einen Theil ihrer
Erdenaufgabe, desgleichen zu thun. Dagegen verlangt Ostfriesland auf das
entschiedenste, in den preußischen Staatsverband zurückzukehren, dem diploma¬
tische Abmachungen es vor fünfzig Jahren entführt haben. Gleiche Erinnerungen
regen sich in Hildesheim, gleiche Wünsche auch in Osnabrück und Stade nebst
Umgebungen.

Gegen eine Annexion ist natürlich fast der ganze Beamtenstand. Er würde
ja das Capital, mit welchem er arbeitet, die Kunde von Gesetzen und Einrich¬
tungen verlieren, wenn Hannover ohne weiteres preußisch würde. Dafür aber
ist er, Dank den letzten mächtig überredender Ereignissen, auf den Standpunkt
des Bundesstaats vorgerückt, den er bisher dem Nationalverein als eine Art
Hoch- und Landesverrat!) anrechnete. Niemand fordert heutzutage bestimmter
die Verschmelzung des kleinen hannoverschen Heeres mit dem großen preußischen,
als die hannoverschen Beamtenkreise in Civil und Uniform. Die Offiziere nament¬
lich sehnen einen Preußisch-französischen Krieg förmlich herbei, um eine mit jedem
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[0163] das Band zerrissen sei, welches sie bisher an ihren Fürsten geknüpft habe. Nur darüber kann man noch im Zweifel sein, ob dieser Bruch der Dynastie gelte oder nur dem einzelnen bisher souveränen Herrn. Oeffentlich und förmlich ist diese Frage bisher weder in Hannover noch in Kassel verhandelt worden. Desto lebhafter und allgemeiner wird sie in tausend Privatgesprächen erörtert. Auch spielte sie doch schon unter der Decke mit, als am 12. Juli, nachdem die Hauptversammlung vorüber war, in einer Nach¬ besprechung der Hannoveraner ein Mitglied des hauptstädtischen Magistrats den Antrag stellte, dem landesverwies.nen König in einer Adresse, welche eine De¬ putation zu überbringen hätte, den Wunsch vorzutragen, daß er dem Thron zu Gunsten seines Sohnes entsage. Der Vorschlag fand gar keine ausdrückliche Unterstützung, wohl aber lauten und starken Widerspruch. Als der Antragsteller zugestand, daß man in Ostfriesland allerdings wohl die Einverleibung in Preu¬ ßen vorziehen werde, riefen Stimmen aus Hildesheim, Celle, Osnabrück, Oste- rode u. f. w.: „Wir auch! wir auch!" Der Vorsitzende v. Bennigsen beendigte darauf mit einer Gewaltanstrengung die Verhandlung, die sonst zu einer ver¬ frühten Messung der Kräfte zwischen Preußisch- und Hannoverisch-Gesinnten hätte führen mögen. Fragt man nach der entsprechenden Stimmung im Volke, so gehen die Strömungen theils räumlich, theils nach der gesellschaftlichen Stellung ausein¬ ander. Die Residenzstadt möchte natürlich den Hof und die Regierung um kei¬ nen Preis einbüßen. Die Universitätsstadt Göttingen ist vielleicht aus ähn¬ lichen Befürchtungen gegen Annexion. In den alten Provinzen, d. h. vorzugs¬ weise in den Landdrosteien Hannover und Lüneburg, hält die Masse des Volkes die Loyalität gegen das Welsenhaus noch fest; ihre Väter haben für dieses Haus gekämpft und gelitten, folglich betrachten sie es als einen Theil ihrer Erdenaufgabe, desgleichen zu thun. Dagegen verlangt Ostfriesland auf das entschiedenste, in den preußischen Staatsverband zurückzukehren, dem diploma¬ tische Abmachungen es vor fünfzig Jahren entführt haben. Gleiche Erinnerungen regen sich in Hildesheim, gleiche Wünsche auch in Osnabrück und Stade nebst Umgebungen. Gegen eine Annexion ist natürlich fast der ganze Beamtenstand. Er würde ja das Capital, mit welchem er arbeitet, die Kunde von Gesetzen und Einrich¬ tungen verlieren, wenn Hannover ohne weiteres preußisch würde. Dafür aber ist er, Dank den letzten mächtig überredender Ereignissen, auf den Standpunkt des Bundesstaats vorgerückt, den er bisher dem Nationalverein als eine Art Hoch- und Landesverrat!) anrechnete. Niemand fordert heutzutage bestimmter die Verschmelzung des kleinen hannoverschen Heeres mit dem großen preußischen, als die hannoverschen Beamtenkreise in Civil und Uniform. Die Offiziere nament¬ lich sehnen einen Preußisch-französischen Krieg förmlich herbei, um eine mit jedem * 19

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_285587/163>, abgerufen am 03.07.2024.