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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. II. Band.

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nimmt. Das ist aber eben das tiefere Zeitbedürfniß, was heutigentags die all-
gemeine Aufmerksamkeit und die besondere Vorliebe aus Shakespeare lenkt, daß
er die Aufgabe der Poesie an einem Punkte ergänzt, wo Goethe eine Lücke
gelassen und Schiller sie nickt völlig ausgefüllt hat. Goethe entspricht Vorzug-
lich der einen Richtung des modernen Bewußtseins, das nach freier Selbst-
bethätigung der Jchheit ringt; er schildert die schwersten Kämpfe der geistigen
und sittlichen Bildung, er giebt sich mit dem einen Grundproblem des deutschen
Geistes, mit dem seiner innern theoretischen Entwickelung ab. Aber nur um
so mehr ruft er den Hunger nach der andern Richtung des jetzigen Bewußtseins
und damit das Verlangen nach dem Dichter des Heldenthums, nach Shakespeare
wach. Diese andere Richtung ist die Bethätigung nach außen, die specifisch
ethischer Art ist, weil sie ganz andere Seiten des Herzens, das ganze Willens-
leben, den Urgrund des Menschen, auch seinen alogischen und eiferartigen Theil,
in Mitleidenschaft zieht und eine bestimmte, von der objectiven Wirklichkeit des
öffentlichen Lebens ihm gestellte Aufgabe gelöst verlangt. Indem der Verfasser
von dieser Jntegrirung Goethes durch Shakespeare, von dieser Ergänzung der
durch Goethe 'geschehenen Befriedigung des idealgemüthlichen Freiheitstriebs
durch die Befriedigung auch des realpraktischen Freiheitstriebs mittelst der
U)"kespeareschen Charaktere und Situationen nichts wissen will, ist er dem
Drama selber und besonders der Tragödie als poetischem Genre, ist er
Shakespeare, dem er seine specifisch lebenskräftigen und immer individuell ge¬
haltenen*) Gestalten vor den deutschen dramatischen Bildern nicht besonders
gutschreibt, dem er insbesondere seine allezeit kräftigen und vollstes, intensivstes,
chatbereites Leben athmenden Darstellungen der wirklichen Welt der Gesellschaft
und des Staats nicht zum Vorzug vor den allerdings svrmvollendeten Seelen¬
gemälden, vornehmlich des späteren goetheschen Drama anrechnet, ist er endlich
sogar Goethe, dessen specifischer Freiheitsdrang in seinen Producten neben der
sonst so richtigen Werthschätzung seiner Muse nicht gebührend ins Licht gestellt
wird, nicht gerecht geworden.

Es kann im Einzelnen nicht fehlen, daß Versasser bei seinem unbefangenen,
nüchternen Blick der verblendeten Shakespearebegeisterung der Romantik und der
Neuzeit mit Glück zu Leibe geht. So wenn er S. 43 ff. die romantische Partei¬
lichkeit für den schroffen Wechsel des Tragischen und Komischen in den ernsten
Stücken oder (S. 94) sür die übertriebene Breite und Ausdehnung des Irrsinns
des Königs Lear aufdeckt. oder wenn er die Ueberspannung der Rolle des Shylok
ermäßigt, oder wenn er S. 131 f. an die Stelle einer erzwungenen Zurecht-
rückung der lustigen Weiber von Windsor und der herzlosen Entlassung Fallstaffs
durch den König gewordenen Prinz Heinz in der gervinusschen Weise sein natur-



") Eine ungemein schiefe Behauptung, daß die shakespcareschen Personen nicht individuell
seien, s. S. ö7.
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nimmt. Das ist aber eben das tiefere Zeitbedürfniß, was heutigentags die all-
gemeine Aufmerksamkeit und die besondere Vorliebe aus Shakespeare lenkt, daß
er die Aufgabe der Poesie an einem Punkte ergänzt, wo Goethe eine Lücke
gelassen und Schiller sie nickt völlig ausgefüllt hat. Goethe entspricht Vorzug-
lich der einen Richtung des modernen Bewußtseins, das nach freier Selbst-
bethätigung der Jchheit ringt; er schildert die schwersten Kämpfe der geistigen
und sittlichen Bildung, er giebt sich mit dem einen Grundproblem des deutschen
Geistes, mit dem seiner innern theoretischen Entwickelung ab. Aber nur um
so mehr ruft er den Hunger nach der andern Richtung des jetzigen Bewußtseins
und damit das Verlangen nach dem Dichter des Heldenthums, nach Shakespeare
wach. Diese andere Richtung ist die Bethätigung nach außen, die specifisch
ethischer Art ist, weil sie ganz andere Seiten des Herzens, das ganze Willens-
leben, den Urgrund des Menschen, auch seinen alogischen und eiferartigen Theil,
in Mitleidenschaft zieht und eine bestimmte, von der objectiven Wirklichkeit des
öffentlichen Lebens ihm gestellte Aufgabe gelöst verlangt. Indem der Verfasser
von dieser Jntegrirung Goethes durch Shakespeare, von dieser Ergänzung der
durch Goethe 'geschehenen Befriedigung des idealgemüthlichen Freiheitstriebs
durch die Befriedigung auch des realpraktischen Freiheitstriebs mittelst der
U)«kespeareschen Charaktere und Situationen nichts wissen will, ist er dem
Drama selber und besonders der Tragödie als poetischem Genre, ist er
Shakespeare, dem er seine specifisch lebenskräftigen und immer individuell ge¬
haltenen*) Gestalten vor den deutschen dramatischen Bildern nicht besonders
gutschreibt, dem er insbesondere seine allezeit kräftigen und vollstes, intensivstes,
chatbereites Leben athmenden Darstellungen der wirklichen Welt der Gesellschaft
und des Staats nicht zum Vorzug vor den allerdings svrmvollendeten Seelen¬
gemälden, vornehmlich des späteren goetheschen Drama anrechnet, ist er endlich
sogar Goethe, dessen specifischer Freiheitsdrang in seinen Producten neben der
sonst so richtigen Werthschätzung seiner Muse nicht gebührend ins Licht gestellt
wird, nicht gerecht geworden.

Es kann im Einzelnen nicht fehlen, daß Versasser bei seinem unbefangenen,
nüchternen Blick der verblendeten Shakespearebegeisterung der Romantik und der
Neuzeit mit Glück zu Leibe geht. So wenn er S. 43 ff. die romantische Partei¬
lichkeit für den schroffen Wechsel des Tragischen und Komischen in den ernsten
Stücken oder (S. 94) sür die übertriebene Breite und Ausdehnung des Irrsinns
des Königs Lear aufdeckt. oder wenn er die Ueberspannung der Rolle des Shylok
ermäßigt, oder wenn er S. 131 f. an die Stelle einer erzwungenen Zurecht-
rückung der lustigen Weiber von Windsor und der herzlosen Entlassung Fallstaffs
durch den König gewordenen Prinz Heinz in der gervinusschen Weise sein natur-



") Eine ungemein schiefe Behauptung, daß die shakespcareschen Personen nicht individuell
seien, s. S. ö7.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_285025/55>, abgerufen am 28.07.2024.