Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

als es auf den ersten Anblick scheinen könnte; ist es doch der richtige Realismus,
was der Verfasser allüberall zu Gunsten seines Goethe in die Wagschale legt.
Der goethesche beschauliche Standpunkt unseres Kritikers zeigt sich vornehmlich
in seinem Angriff auf die allgemeinen Motive des jetzigen Shakespearecultus,
den er von zwei früheren Stadien, von dem Stadium der Einführung der
deutschen Literatur in die Epoche ihrer Klassicität durch d^n englischen Dichter
und von dem der apart romantischen Verehrung des Dichters als das Stadium
des dritten, praktischen Zeitalters, "das nach geschichtlicher That, großen Cha¬
rakteren und Situationen verlangt" nicht ohne Geschick und mit Grund unter¬
scheidet. Es wird nun diesem modernen Cultus die Berechtigung bestritten, in
demjenigen, worin er seinen drastischen Drang befriedigt findet, in den eigentlich
dramatischen und tragischen Stoffen aus den Gebieten des Staats, Volks und
der Geschichte, also in der Welt der shakcspcareschen Muse ein Andres und
vollends ein Höheres zu sehen, als in den sogenannten niederen Stoffen aus
dem Privatleben. Einestheils sucht der Verfasser den Unterschied von Erschei¬
nungen des objectiven, öffentlichen und des subjectiven, blos innerlichen Lebens
für den Gesichtspunkt, den die Poesie hat, völlig zu läugnen: das dichterische
Schaffen und das Nachbilden und nachempfinden der Phantasiewelt des Dichters
werde nur oberflächlich von den jeweiligen, besonderes politischen Zeittendenzen
und Zeitinteressen berührt und modificirt; alles poetische Produciren und Ge¬
nießen gehe in der Darstellung der Vorgänge des subjectiven Gemüths auf,
und dieses Gemüth selber greife nicht nach den blos wandelbaren Zeitproblemen,
sondern nach dem Ewigen und Neinmcnschlichen, d. h. nach seiner eigenen Binnen¬
welt mit ihren Freuden und Leiden, mit ihren Stimmungen und Schicksalen,
die wohl mitunter auch von Staat und Gesellschaft ihre Anregung bekommen
mögen. Wenn hiernach in den Dichtungen auch der Schauplatz eines öffent¬
lichen Wirkens vorkommen könne, so hafte ein wirklich ästhetisches Interesse
nicht an den Absiractionen von Staat, Fortschritt, Nationalität, sondern an den
individuellen Seelenzuständen, welche der Dichter uns nachempfinden lasse.
Anderntheils wird, da auch so der Unterschied objectiver und subjektiver Zustände
als Gegenstände der poetischen Darstellung nicht ganz wegzubringen ist, gradezu
S. 203 ausgesprochen: "Wir werden es niemals gelten lassen, daß etwa Wil¬
helm Meister und die Wahlverwandtschaften, um von Faust nicht zu reden,
eben darum, weil sie uns nur die geistigen und sittlichen Bildungszustände von
Privatpersonen darstellen, in ein niedrigeres Feld der Poesie zu verweisen
wären, als die historischen Dramen und Romane, die sich mit Politik und
Völkerschicksalen befassen." Ein Satz, der gegenüber einer einseitigen, parteiischen
Shakespeareverehrung vollkommen zuzugeben ist, nur daß der Verfasser noch
weiter gegangen ist und nicht blos den Vorrang, sondern auch die Specialität
der shakespeareschen Dichtungsart im Vergleich zur goetheschen in Anspruch


als es auf den ersten Anblick scheinen könnte; ist es doch der richtige Realismus,
was der Verfasser allüberall zu Gunsten seines Goethe in die Wagschale legt.
Der goethesche beschauliche Standpunkt unseres Kritikers zeigt sich vornehmlich
in seinem Angriff auf die allgemeinen Motive des jetzigen Shakespearecultus,
den er von zwei früheren Stadien, von dem Stadium der Einführung der
deutschen Literatur in die Epoche ihrer Klassicität durch d^n englischen Dichter
und von dem der apart romantischen Verehrung des Dichters als das Stadium
des dritten, praktischen Zeitalters, „das nach geschichtlicher That, großen Cha¬
rakteren und Situationen verlangt" nicht ohne Geschick und mit Grund unter¬
scheidet. Es wird nun diesem modernen Cultus die Berechtigung bestritten, in
demjenigen, worin er seinen drastischen Drang befriedigt findet, in den eigentlich
dramatischen und tragischen Stoffen aus den Gebieten des Staats, Volks und
der Geschichte, also in der Welt der shakcspcareschen Muse ein Andres und
vollends ein Höheres zu sehen, als in den sogenannten niederen Stoffen aus
dem Privatleben. Einestheils sucht der Verfasser den Unterschied von Erschei¬
nungen des objectiven, öffentlichen und des subjectiven, blos innerlichen Lebens
für den Gesichtspunkt, den die Poesie hat, völlig zu läugnen: das dichterische
Schaffen und das Nachbilden und nachempfinden der Phantasiewelt des Dichters
werde nur oberflächlich von den jeweiligen, besonderes politischen Zeittendenzen
und Zeitinteressen berührt und modificirt; alles poetische Produciren und Ge¬
nießen gehe in der Darstellung der Vorgänge des subjectiven Gemüths auf,
und dieses Gemüth selber greife nicht nach den blos wandelbaren Zeitproblemen,
sondern nach dem Ewigen und Neinmcnschlichen, d. h. nach seiner eigenen Binnen¬
welt mit ihren Freuden und Leiden, mit ihren Stimmungen und Schicksalen,
die wohl mitunter auch von Staat und Gesellschaft ihre Anregung bekommen
mögen. Wenn hiernach in den Dichtungen auch der Schauplatz eines öffent¬
lichen Wirkens vorkommen könne, so hafte ein wirklich ästhetisches Interesse
nicht an den Absiractionen von Staat, Fortschritt, Nationalität, sondern an den
individuellen Seelenzuständen, welche der Dichter uns nachempfinden lasse.
Anderntheils wird, da auch so der Unterschied objectiver und subjektiver Zustände
als Gegenstände der poetischen Darstellung nicht ganz wegzubringen ist, gradezu
S. 203 ausgesprochen: „Wir werden es niemals gelten lassen, daß etwa Wil¬
helm Meister und die Wahlverwandtschaften, um von Faust nicht zu reden,
eben darum, weil sie uns nur die geistigen und sittlichen Bildungszustände von
Privatpersonen darstellen, in ein niedrigeres Feld der Poesie zu verweisen
wären, als die historischen Dramen und Romane, die sich mit Politik und
Völkerschicksalen befassen." Ein Satz, der gegenüber einer einseitigen, parteiischen
Shakespeareverehrung vollkommen zuzugeben ist, nur daß der Verfasser noch
weiter gegangen ist und nicht blos den Vorrang, sondern auch die Specialität
der shakespeareschen Dichtungsart im Vergleich zur goetheschen in Anspruch


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0054" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/285080"/>
          <p xml:id="ID_89" prev="#ID_88" next="#ID_90"> als es auf den ersten Anblick scheinen könnte; ist es doch der richtige Realismus,<lb/>
was der Verfasser allüberall zu Gunsten seines Goethe in die Wagschale legt.<lb/>
Der goethesche beschauliche Standpunkt unseres Kritikers zeigt sich vornehmlich<lb/>
in seinem Angriff auf die allgemeinen Motive des jetzigen Shakespearecultus,<lb/>
den er von zwei früheren Stadien, von dem Stadium der Einführung der<lb/>
deutschen Literatur in die Epoche ihrer Klassicität durch d^n englischen Dichter<lb/>
und von dem der apart romantischen Verehrung des Dichters als das Stadium<lb/>
des dritten, praktischen Zeitalters, &#x201E;das nach geschichtlicher That, großen Cha¬<lb/>
rakteren und Situationen verlangt" nicht ohne Geschick und mit Grund unter¬<lb/>
scheidet. Es wird nun diesem modernen Cultus die Berechtigung bestritten, in<lb/>
demjenigen, worin er seinen drastischen Drang befriedigt findet, in den eigentlich<lb/>
dramatischen und tragischen Stoffen aus den Gebieten des Staats, Volks und<lb/>
der Geschichte, also in der Welt der shakcspcareschen Muse ein Andres und<lb/>
vollends ein Höheres zu sehen, als in den sogenannten niederen Stoffen aus<lb/>
dem Privatleben. Einestheils sucht der Verfasser den Unterschied von Erschei¬<lb/>
nungen des objectiven, öffentlichen und des subjectiven, blos innerlichen Lebens<lb/>
für den Gesichtspunkt, den die Poesie hat, völlig zu läugnen: das dichterische<lb/>
Schaffen und das Nachbilden und nachempfinden der Phantasiewelt des Dichters<lb/>
werde nur oberflächlich von den jeweiligen, besonderes politischen Zeittendenzen<lb/>
und Zeitinteressen berührt und modificirt; alles poetische Produciren und Ge¬<lb/>
nießen gehe in der Darstellung der Vorgänge des subjectiven Gemüths auf,<lb/>
und dieses Gemüth selber greife nicht nach den blos wandelbaren Zeitproblemen,<lb/>
sondern nach dem Ewigen und Neinmcnschlichen, d. h. nach seiner eigenen Binnen¬<lb/>
welt mit ihren Freuden und Leiden, mit ihren Stimmungen und Schicksalen,<lb/>
die wohl mitunter auch von Staat und Gesellschaft ihre Anregung bekommen<lb/>
mögen. Wenn hiernach in den Dichtungen auch der Schauplatz eines öffent¬<lb/>
lichen Wirkens vorkommen könne, so hafte ein wirklich ästhetisches Interesse<lb/>
nicht an den Absiractionen von Staat, Fortschritt, Nationalität, sondern an den<lb/>
individuellen Seelenzuständen, welche der Dichter uns nachempfinden lasse.<lb/>
Anderntheils wird, da auch so der Unterschied objectiver und subjektiver Zustände<lb/>
als Gegenstände der poetischen Darstellung nicht ganz wegzubringen ist, gradezu<lb/>
S. 203 ausgesprochen: &#x201E;Wir werden es niemals gelten lassen, daß etwa Wil¬<lb/>
helm Meister und die Wahlverwandtschaften, um von Faust nicht zu reden,<lb/>
eben darum, weil sie uns nur die geistigen und sittlichen Bildungszustände von<lb/>
Privatpersonen darstellen, in ein niedrigeres Feld der Poesie zu verweisen<lb/>
wären, als die historischen Dramen und Romane, die sich mit Politik und<lb/>
Völkerschicksalen befassen." Ein Satz, der gegenüber einer einseitigen, parteiischen<lb/>
Shakespeareverehrung vollkommen zuzugeben ist, nur daß der Verfasser noch<lb/>
weiter gegangen ist und nicht blos den Vorrang, sondern auch die Specialität<lb/>
der shakespeareschen Dichtungsart im Vergleich zur goetheschen in Anspruch</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0054] als es auf den ersten Anblick scheinen könnte; ist es doch der richtige Realismus, was der Verfasser allüberall zu Gunsten seines Goethe in die Wagschale legt. Der goethesche beschauliche Standpunkt unseres Kritikers zeigt sich vornehmlich in seinem Angriff auf die allgemeinen Motive des jetzigen Shakespearecultus, den er von zwei früheren Stadien, von dem Stadium der Einführung der deutschen Literatur in die Epoche ihrer Klassicität durch d^n englischen Dichter und von dem der apart romantischen Verehrung des Dichters als das Stadium des dritten, praktischen Zeitalters, „das nach geschichtlicher That, großen Cha¬ rakteren und Situationen verlangt" nicht ohne Geschick und mit Grund unter¬ scheidet. Es wird nun diesem modernen Cultus die Berechtigung bestritten, in demjenigen, worin er seinen drastischen Drang befriedigt findet, in den eigentlich dramatischen und tragischen Stoffen aus den Gebieten des Staats, Volks und der Geschichte, also in der Welt der shakcspcareschen Muse ein Andres und vollends ein Höheres zu sehen, als in den sogenannten niederen Stoffen aus dem Privatleben. Einestheils sucht der Verfasser den Unterschied von Erschei¬ nungen des objectiven, öffentlichen und des subjectiven, blos innerlichen Lebens für den Gesichtspunkt, den die Poesie hat, völlig zu läugnen: das dichterische Schaffen und das Nachbilden und nachempfinden der Phantasiewelt des Dichters werde nur oberflächlich von den jeweiligen, besonderes politischen Zeittendenzen und Zeitinteressen berührt und modificirt; alles poetische Produciren und Ge¬ nießen gehe in der Darstellung der Vorgänge des subjectiven Gemüths auf, und dieses Gemüth selber greife nicht nach den blos wandelbaren Zeitproblemen, sondern nach dem Ewigen und Neinmcnschlichen, d. h. nach seiner eigenen Binnen¬ welt mit ihren Freuden und Leiden, mit ihren Stimmungen und Schicksalen, die wohl mitunter auch von Staat und Gesellschaft ihre Anregung bekommen mögen. Wenn hiernach in den Dichtungen auch der Schauplatz eines öffent¬ lichen Wirkens vorkommen könne, so hafte ein wirklich ästhetisches Interesse nicht an den Absiractionen von Staat, Fortschritt, Nationalität, sondern an den individuellen Seelenzuständen, welche der Dichter uns nachempfinden lasse. Anderntheils wird, da auch so der Unterschied objectiver und subjektiver Zustände als Gegenstände der poetischen Darstellung nicht ganz wegzubringen ist, gradezu S. 203 ausgesprochen: „Wir werden es niemals gelten lassen, daß etwa Wil¬ helm Meister und die Wahlverwandtschaften, um von Faust nicht zu reden, eben darum, weil sie uns nur die geistigen und sittlichen Bildungszustände von Privatpersonen darstellen, in ein niedrigeres Feld der Poesie zu verweisen wären, als die historischen Dramen und Romane, die sich mit Politik und Völkerschicksalen befassen." Ein Satz, der gegenüber einer einseitigen, parteiischen Shakespeareverehrung vollkommen zuzugeben ist, nur daß der Verfasser noch weiter gegangen ist und nicht blos den Vorrang, sondern auch die Specialität der shakespeareschen Dichtungsart im Vergleich zur goetheschen in Anspruch

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_285025
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_285025/54
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_285025/54>, abgerufen am 28.07.2024.