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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. II. Band.

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leanismus bedroht die Zukunft seiner Dynastie, vorausgesetzt 1) daß es dem
Kaiser unmöglich sein sollte, Frankreich nach und nach das zu gewähren, was
es von der altconstitutionellen Partei erwartet, und daß diese Partei lebens¬
kräftig und jugendlich frisch genug ist. um vor allem erst an sich selbst eine
gründliche Reform zu vollziehen, wozu bis jetzt noch wenig Aussicht vorhanden
ist. Denn den alten Konstitutionellen geht es wie allen zu Boden geworfenen
und zu längerer Ruhe verurtheilten Parteien: sie ignoriren, was ohne ihr Zu¬
thun gestehen ist, und knüpfen mit voller Unbefangenheit an die zu den Zeiten
ihrer Macht herrschenden Ideen an: so besonders Thiers, der in seinen dies¬
jährigen Rede" ebenso seinen Ruf alö glänzender Nednei, wie andrerseits die
Unfruchtbarkeit seiner Ideen, die Jsvlinheit seines Standpunktes in dem gegen¬
wärtigen Frankreich und Europa bewahr hat. Es ist nicbt möglich, die
Mängel des Systems, das er bekämpft, schärfer zu geißeln und die Forderungen
des constitutionellen Systems mit größerer Klarheit darzulegen, als er es gethan
hat; so ist denn auch der Eindruck seiner beredten Worte auf Freund und Feind
bedeutend gewesen. Seine Apotheose der Freiheit bildete nebst den scharfen,
aber wohlverdienten Ausfällen Favrcs und Pclletans auf den unter dem
gegenwärtigen Regime üppig cmporwuchcrnden rohen Cynismus der öffentlichen
Sitten, den Höhepunkt der Adrcßdcbatte. Wie ist denn nun aber die Freiheit
beschaffen, deren Herstellung Thiers als unerläßlich für die Rehabilitirung Frank¬
reichs fordert? Daß er die Freiheit der Tribüne und der Presse verlangt,
genügt doch noch nicht, um seinen Standpunkt zu charakterisiren. In diesen
Forderungen können sich sehr verschiedene Parteien begegnen. Gehen wir aber
etwas näher auf seine Ansichten ein, so finden wir, daß er in vielen Bezie¬
hungen auf einem wesentlich niedrigeren Standpunkt als das gegenwärtige
System steht. Wenn es möglich wäre, Frankreich und die Welt nach seinen
Ansichten und Wünschen umzugestalten, so würde damit eine Reaction hervor¬
gebracht werden, wie sie kaum absurder dagewesen ist. Vor allem in seiner
eigensinnigen und zähen Vertheidigung des Schutzzolls vertritt er entschieden
den Rückschritt, so daß der Imperialismus in dieser Beziehung ihm gegenüber
die Meinung fast des ganzen Frankreichs für sich hat. Aber auch hinsichtlich
seines administrativen Standpunktes hat er vor dem Imperialismus wenigstens
nichts voraus. Er sieht sein Ideal in dem Frankreich Ludwig des Vierzehnten
und Colberts und wünscht nur deren System mit der Freiheit zu verbinden.
An eben dies System hat aber auch die Republik angeknüpft und jedes folgende
Regime, vor allem das erste Kaiserthum. Napoleon der Erste, weit entfernt,
mit den Verwaltungsgrundsätzen des alten Frankreichs zu brechen, hat dieselben
vielmehr weiter entwickelt und in ein tief durchdachtes, der höchsten Leistungen
fähiges System gebracht. Von der Revolution hat er nur die socialen Grund¬
satze festgehalten, die sich ganz vortrefflich dem Verwaltungsdespotismus an-


leanismus bedroht die Zukunft seiner Dynastie, vorausgesetzt 1) daß es dem
Kaiser unmöglich sein sollte, Frankreich nach und nach das zu gewähren, was
es von der altconstitutionellen Partei erwartet, und daß diese Partei lebens¬
kräftig und jugendlich frisch genug ist. um vor allem erst an sich selbst eine
gründliche Reform zu vollziehen, wozu bis jetzt noch wenig Aussicht vorhanden
ist. Denn den alten Konstitutionellen geht es wie allen zu Boden geworfenen
und zu längerer Ruhe verurtheilten Parteien: sie ignoriren, was ohne ihr Zu¬
thun gestehen ist, und knüpfen mit voller Unbefangenheit an die zu den Zeiten
ihrer Macht herrschenden Ideen an: so besonders Thiers, der in seinen dies¬
jährigen Rede» ebenso seinen Ruf alö glänzender Nednei, wie andrerseits die
Unfruchtbarkeit seiner Ideen, die Jsvlinheit seines Standpunktes in dem gegen¬
wärtigen Frankreich und Europa bewahr hat. Es ist nicbt möglich, die
Mängel des Systems, das er bekämpft, schärfer zu geißeln und die Forderungen
des constitutionellen Systems mit größerer Klarheit darzulegen, als er es gethan
hat; so ist denn auch der Eindruck seiner beredten Worte auf Freund und Feind
bedeutend gewesen. Seine Apotheose der Freiheit bildete nebst den scharfen,
aber wohlverdienten Ausfällen Favrcs und Pclletans auf den unter dem
gegenwärtigen Regime üppig cmporwuchcrnden rohen Cynismus der öffentlichen
Sitten, den Höhepunkt der Adrcßdcbatte. Wie ist denn nun aber die Freiheit
beschaffen, deren Herstellung Thiers als unerläßlich für die Rehabilitirung Frank¬
reichs fordert? Daß er die Freiheit der Tribüne und der Presse verlangt,
genügt doch noch nicht, um seinen Standpunkt zu charakterisiren. In diesen
Forderungen können sich sehr verschiedene Parteien begegnen. Gehen wir aber
etwas näher auf seine Ansichten ein, so finden wir, daß er in vielen Bezie¬
hungen auf einem wesentlich niedrigeren Standpunkt als das gegenwärtige
System steht. Wenn es möglich wäre, Frankreich und die Welt nach seinen
Ansichten und Wünschen umzugestalten, so würde damit eine Reaction hervor¬
gebracht werden, wie sie kaum absurder dagewesen ist. Vor allem in seiner
eigensinnigen und zähen Vertheidigung des Schutzzolls vertritt er entschieden
den Rückschritt, so daß der Imperialismus in dieser Beziehung ihm gegenüber
die Meinung fast des ganzen Frankreichs für sich hat. Aber auch hinsichtlich
seines administrativen Standpunktes hat er vor dem Imperialismus wenigstens
nichts voraus. Er sieht sein Ideal in dem Frankreich Ludwig des Vierzehnten
und Colberts und wünscht nur deren System mit der Freiheit zu verbinden.
An eben dies System hat aber auch die Republik angeknüpft und jedes folgende
Regime, vor allem das erste Kaiserthum. Napoleon der Erste, weit entfernt,
mit den Verwaltungsgrundsätzen des alten Frankreichs zu brechen, hat dieselben
vielmehr weiter entwickelt und in ein tief durchdachtes, der höchsten Leistungen
fähiges System gebracht. Von der Revolution hat er nur die socialen Grund¬
satze festgehalten, die sich ganz vortrefflich dem Verwaltungsdespotismus an-


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[0269] leanismus bedroht die Zukunft seiner Dynastie, vorausgesetzt 1) daß es dem Kaiser unmöglich sein sollte, Frankreich nach und nach das zu gewähren, was es von der altconstitutionellen Partei erwartet, und daß diese Partei lebens¬ kräftig und jugendlich frisch genug ist. um vor allem erst an sich selbst eine gründliche Reform zu vollziehen, wozu bis jetzt noch wenig Aussicht vorhanden ist. Denn den alten Konstitutionellen geht es wie allen zu Boden geworfenen und zu längerer Ruhe verurtheilten Parteien: sie ignoriren, was ohne ihr Zu¬ thun gestehen ist, und knüpfen mit voller Unbefangenheit an die zu den Zeiten ihrer Macht herrschenden Ideen an: so besonders Thiers, der in seinen dies¬ jährigen Rede» ebenso seinen Ruf alö glänzender Nednei, wie andrerseits die Unfruchtbarkeit seiner Ideen, die Jsvlinheit seines Standpunktes in dem gegen¬ wärtigen Frankreich und Europa bewahr hat. Es ist nicbt möglich, die Mängel des Systems, das er bekämpft, schärfer zu geißeln und die Forderungen des constitutionellen Systems mit größerer Klarheit darzulegen, als er es gethan hat; so ist denn auch der Eindruck seiner beredten Worte auf Freund und Feind bedeutend gewesen. Seine Apotheose der Freiheit bildete nebst den scharfen, aber wohlverdienten Ausfällen Favrcs und Pclletans auf den unter dem gegenwärtigen Regime üppig cmporwuchcrnden rohen Cynismus der öffentlichen Sitten, den Höhepunkt der Adrcßdcbatte. Wie ist denn nun aber die Freiheit beschaffen, deren Herstellung Thiers als unerläßlich für die Rehabilitirung Frank¬ reichs fordert? Daß er die Freiheit der Tribüne und der Presse verlangt, genügt doch noch nicht, um seinen Standpunkt zu charakterisiren. In diesen Forderungen können sich sehr verschiedene Parteien begegnen. Gehen wir aber etwas näher auf seine Ansichten ein, so finden wir, daß er in vielen Bezie¬ hungen auf einem wesentlich niedrigeren Standpunkt als das gegenwärtige System steht. Wenn es möglich wäre, Frankreich und die Welt nach seinen Ansichten und Wünschen umzugestalten, so würde damit eine Reaction hervor¬ gebracht werden, wie sie kaum absurder dagewesen ist. Vor allem in seiner eigensinnigen und zähen Vertheidigung des Schutzzolls vertritt er entschieden den Rückschritt, so daß der Imperialismus in dieser Beziehung ihm gegenüber die Meinung fast des ganzen Frankreichs für sich hat. Aber auch hinsichtlich seines administrativen Standpunktes hat er vor dem Imperialismus wenigstens nichts voraus. Er sieht sein Ideal in dem Frankreich Ludwig des Vierzehnten und Colberts und wünscht nur deren System mit der Freiheit zu verbinden. An eben dies System hat aber auch die Republik angeknüpft und jedes folgende Regime, vor allem das erste Kaiserthum. Napoleon der Erste, weit entfernt, mit den Verwaltungsgrundsätzen des alten Frankreichs zu brechen, hat dieselben vielmehr weiter entwickelt und in ein tief durchdachtes, der höchsten Leistungen fähiges System gebracht. Von der Revolution hat er nur die socialen Grund¬ satze festgehalten, die sich ganz vortrefflich dem Verwaltungsdespotismus an-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_285025/269>, abgerufen am 28.07.2024.