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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. II. Band.

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schmiegen. Diejenigen Regierungen oder, welche die politische Freiheit dem be¬
stehenden Verwaltungssystem anzupassen gesucht Kaden, sind ein dem innern
Widerspruche dieses Unternehmens zu Grunde gegangen. Wenn nun Herr Thiers,
dessen Verwaltungsgrundscilze mindestens ebenso gut bonapartistisch sind als die
des Kaisers selbst, nochmals das Unvereinbare vereinen will, glaubt er etwa,
daß die Natur der Menschen sich seit 16 Jahren geändert bat? Glaubt er,
daß das Präfectenregiment eine Schule der Freiheit geworden ist? und glaubt
er ferner, daß eine Regierung (sei sie absolutistisch, sei sie parlamentarisch, darauf
kommt hier gar nichts an), der das Verwaltungsrecht eine fast unbeschränkte,
auf die kleinsten localen Interessen sich erstreckende Macht in die Hände legt,
diese Macht unbenutzt lassen oder zu Gunsten der Freiheit benutzen wird? Eine
Regierung, welche die Macht, die ihr zusteht, nicht aufs kräftigste ausübt, wird
in Frankreich unter allen Umständen als schwach und unfähig gelten. Napoleon
will die Macht unvermindert erhalten, und darum schließt er die Freiheit aus;
das ist logisch und consequent gehandelt; Thiers hält gleichfalls an der Macht
fest, will aber die Freiheit damit vereinigen; darin denkt er unlogisch und wider¬
spruchsvoll. Die Macht kann in Frankreich nicht dadurch versöhnt werden, daß
sie in die Hände einer Versammlung gelegt wird (das will Thiers), sondern
dadurch, daß sie beschränkt wird; ein Gedanke, zu dem sehr wenige Staats¬
männer in Frankreich sich erheben, wie denn auch diesmal die Opposition diesen
wichtigsten Punkt nur ganz oberflächlich berührt hat.

Von dem Standpunkt aus, den Thiers in innern Fragen einnimmt, läßt
sich daher das gegenwärtige System durchaus nicht bekämpfen; wenigstens würde
Thiers Sieg Frankreich einen sehr zweifelhaften Gewinn bringen. In der aus¬
wärtigen Politik stellt sich das Verhältniß für den Kaiser noch günstiger. Thiers
Dogma ist das alte: Hegemonie Frankreichs in Europa. Auch sein Mittel, um
diese prätendirte Obmacht zu erhalten, eventuell sie wiederzugewinnen, ist das alte:
Frankreich muß rings von schwachen, unter einander uneinigen Gemeinwesen
umgeben sein. Der Einheitsstaat Italien ist ein Grciuel in den Augen der
französischen Orthodoxie; zum Glück für Victor Emanuel beschränkt sich die
Rache, die sie an der Existenz des neuen Staates nimmt, auf gelegentliche
Prophezeihungen von dem baldigen Zerfalle desselben. Nicht anders steht Thiers
Deutschland gegenüber; er ist der Gegner Preußens, weil er weiß, daß jeder
Erfolg dieser Macht ein Schritt zur Unisicirung Deutschlands ist. Allerdings
eine unbestreitbare Wahrheit, die auch von allen urtheilsfähigem Ausländern
als selbstverständliches Axiom behandelt wird, und nur bei den deutschen offnen
oder verschämten Particularisten Widerspruch findet. Diese Politik, die die
Größe Frankreichs in der Schwäche der Nachbarn sucht*), ist aber ebenso



") Mein würde übrigens sehr irren, wenn man glauben wollte, daß Thiers mit diesen
Ansichten vereinzelt dastünde. In allen Parteien finden sich Männer, die den deutschen Ein-

schmiegen. Diejenigen Regierungen oder, welche die politische Freiheit dem be¬
stehenden Verwaltungssystem anzupassen gesucht Kaden, sind ein dem innern
Widerspruche dieses Unternehmens zu Grunde gegangen. Wenn nun Herr Thiers,
dessen Verwaltungsgrundscilze mindestens ebenso gut bonapartistisch sind als die
des Kaisers selbst, nochmals das Unvereinbare vereinen will, glaubt er etwa,
daß die Natur der Menschen sich seit 16 Jahren geändert bat? Glaubt er,
daß das Präfectenregiment eine Schule der Freiheit geworden ist? und glaubt
er ferner, daß eine Regierung (sei sie absolutistisch, sei sie parlamentarisch, darauf
kommt hier gar nichts an), der das Verwaltungsrecht eine fast unbeschränkte,
auf die kleinsten localen Interessen sich erstreckende Macht in die Hände legt,
diese Macht unbenutzt lassen oder zu Gunsten der Freiheit benutzen wird? Eine
Regierung, welche die Macht, die ihr zusteht, nicht aufs kräftigste ausübt, wird
in Frankreich unter allen Umständen als schwach und unfähig gelten. Napoleon
will die Macht unvermindert erhalten, und darum schließt er die Freiheit aus;
das ist logisch und consequent gehandelt; Thiers hält gleichfalls an der Macht
fest, will aber die Freiheit damit vereinigen; darin denkt er unlogisch und wider¬
spruchsvoll. Die Macht kann in Frankreich nicht dadurch versöhnt werden, daß
sie in die Hände einer Versammlung gelegt wird (das will Thiers), sondern
dadurch, daß sie beschränkt wird; ein Gedanke, zu dem sehr wenige Staats¬
männer in Frankreich sich erheben, wie denn auch diesmal die Opposition diesen
wichtigsten Punkt nur ganz oberflächlich berührt hat.

Von dem Standpunkt aus, den Thiers in innern Fragen einnimmt, läßt
sich daher das gegenwärtige System durchaus nicht bekämpfen; wenigstens würde
Thiers Sieg Frankreich einen sehr zweifelhaften Gewinn bringen. In der aus¬
wärtigen Politik stellt sich das Verhältniß für den Kaiser noch günstiger. Thiers
Dogma ist das alte: Hegemonie Frankreichs in Europa. Auch sein Mittel, um
diese prätendirte Obmacht zu erhalten, eventuell sie wiederzugewinnen, ist das alte:
Frankreich muß rings von schwachen, unter einander uneinigen Gemeinwesen
umgeben sein. Der Einheitsstaat Italien ist ein Grciuel in den Augen der
französischen Orthodoxie; zum Glück für Victor Emanuel beschränkt sich die
Rache, die sie an der Existenz des neuen Staates nimmt, auf gelegentliche
Prophezeihungen von dem baldigen Zerfalle desselben. Nicht anders steht Thiers
Deutschland gegenüber; er ist der Gegner Preußens, weil er weiß, daß jeder
Erfolg dieser Macht ein Schritt zur Unisicirung Deutschlands ist. Allerdings
eine unbestreitbare Wahrheit, die auch von allen urtheilsfähigem Ausländern
als selbstverständliches Axiom behandelt wird, und nur bei den deutschen offnen
oder verschämten Particularisten Widerspruch findet. Diese Politik, die die
Größe Frankreichs in der Schwäche der Nachbarn sucht*), ist aber ebenso



") Mein würde übrigens sehr irren, wenn man glauben wollte, daß Thiers mit diesen
Ansichten vereinzelt dastünde. In allen Parteien finden sich Männer, die den deutschen Ein-
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[0270] schmiegen. Diejenigen Regierungen oder, welche die politische Freiheit dem be¬ stehenden Verwaltungssystem anzupassen gesucht Kaden, sind ein dem innern Widerspruche dieses Unternehmens zu Grunde gegangen. Wenn nun Herr Thiers, dessen Verwaltungsgrundscilze mindestens ebenso gut bonapartistisch sind als die des Kaisers selbst, nochmals das Unvereinbare vereinen will, glaubt er etwa, daß die Natur der Menschen sich seit 16 Jahren geändert bat? Glaubt er, daß das Präfectenregiment eine Schule der Freiheit geworden ist? und glaubt er ferner, daß eine Regierung (sei sie absolutistisch, sei sie parlamentarisch, darauf kommt hier gar nichts an), der das Verwaltungsrecht eine fast unbeschränkte, auf die kleinsten localen Interessen sich erstreckende Macht in die Hände legt, diese Macht unbenutzt lassen oder zu Gunsten der Freiheit benutzen wird? Eine Regierung, welche die Macht, die ihr zusteht, nicht aufs kräftigste ausübt, wird in Frankreich unter allen Umständen als schwach und unfähig gelten. Napoleon will die Macht unvermindert erhalten, und darum schließt er die Freiheit aus; das ist logisch und consequent gehandelt; Thiers hält gleichfalls an der Macht fest, will aber die Freiheit damit vereinigen; darin denkt er unlogisch und wider¬ spruchsvoll. Die Macht kann in Frankreich nicht dadurch versöhnt werden, daß sie in die Hände einer Versammlung gelegt wird (das will Thiers), sondern dadurch, daß sie beschränkt wird; ein Gedanke, zu dem sehr wenige Staats¬ männer in Frankreich sich erheben, wie denn auch diesmal die Opposition diesen wichtigsten Punkt nur ganz oberflächlich berührt hat. Von dem Standpunkt aus, den Thiers in innern Fragen einnimmt, läßt sich daher das gegenwärtige System durchaus nicht bekämpfen; wenigstens würde Thiers Sieg Frankreich einen sehr zweifelhaften Gewinn bringen. In der aus¬ wärtigen Politik stellt sich das Verhältniß für den Kaiser noch günstiger. Thiers Dogma ist das alte: Hegemonie Frankreichs in Europa. Auch sein Mittel, um diese prätendirte Obmacht zu erhalten, eventuell sie wiederzugewinnen, ist das alte: Frankreich muß rings von schwachen, unter einander uneinigen Gemeinwesen umgeben sein. Der Einheitsstaat Italien ist ein Grciuel in den Augen der französischen Orthodoxie; zum Glück für Victor Emanuel beschränkt sich die Rache, die sie an der Existenz des neuen Staates nimmt, auf gelegentliche Prophezeihungen von dem baldigen Zerfalle desselben. Nicht anders steht Thiers Deutschland gegenüber; er ist der Gegner Preußens, weil er weiß, daß jeder Erfolg dieser Macht ein Schritt zur Unisicirung Deutschlands ist. Allerdings eine unbestreitbare Wahrheit, die auch von allen urtheilsfähigem Ausländern als selbstverständliches Axiom behandelt wird, und nur bei den deutschen offnen oder verschämten Particularisten Widerspruch findet. Diese Politik, die die Größe Frankreichs in der Schwäche der Nachbarn sucht*), ist aber ebenso ") Mein würde übrigens sehr irren, wenn man glauben wollte, daß Thiers mit diesen Ansichten vereinzelt dastünde. In allen Parteien finden sich Männer, die den deutschen Ein-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_285025/270>, abgerufen am 28.07.2024.