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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. II. Band.

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wirkenden irdischen Vorsehung besser befriedigte. Napoleons lebhaftestes Be¬
streben ist es, in den Franzosen nicht den leisesten Zweifel darüber aufkommen
zu lassen, daß er zu dieser Rolle persönlich befähigt und berufen ist. Je
gewaltiger die Macht des Nationalwillens ist, aus der seine Souveränetät sich
ableitet, um so mehr muh er bemüht sein, durch seine Leistungen das Vertrauen
des Volkes zu rechtfertigen. Kein Herrscher Europas hat mit gleicher Sorgfalt
von Tag zu Tag die Stimmungen, Neigungen und Abneigungen seines Volkes
zu erforschen wie er, kein Monarch hat in gleichem Maße wie er es nöthig,
für jede seiner Unternehmungen die öffentliche Meinung zu gewinnen. Das ist
die Gefahr seiner Stellung; ihr Vortheil ist, daß die große Masse an seinem
unausgesetzten Eingreifen in alle öffentlichen Verhältnisse, vorausgesetzt, daß er
auf der Linie des Gleichhcitsprincips sich bewegt und bei allem, was er thut,
den handgreiflichen Erfolg für sich hat, keinen ernsten Anstoß nimmt, sondern
im Gegentheil ein derartiges Eingreifen, wenn sie auch gelegentlich darüber
murrt, im Großen und Ganzen doch fordert.

Daß einer so schwierigen Stellung selbst auf kurze Zeit nur ein Mann von
der außerordentlichen Begabung Napoleons gewachsen ist, ist an sich klar. Läßt
sich aber annehmen, daß selbst er ihr auf die Dauer gewachsen ist? Läßt sich
ferner annehmen, daß die Hand, die nach ihm sein Werk fortzuführen berufen
ist, im Stande sein wnd, die feste beherrschende Stellung über den Factionen
zu behaupten, die er einnimmt? Denn, man vergesse nicht, alle Klugheit des
Kaisers ist nicht im Stande, sein Werk zu einem Ruhepunkt zu führen, wo,
wie man sagt, die Dinge von selbst gehen. Mag die Quelle seiner Macht der
Wille des Volks sein, die Bedingung ihres Bestehens ist die unausgesetzte, rast¬
lose kluge Anwendung derselben. Ein Fehlgriff, ein Verkennen der öffentlichen
Meinung kann die Grundlagen des Gebäudes so erschüttern, daß ein minder
starker Wille als der des Kaisers nicht im Stande sein dürfte, den völligen
Umsturz abzuwenden. Wie soll ein Mittel gefunden werden, einen gelegentlich
heftigen Ausbruch der Volksstimme, die kaum Napoleon, gewiß nicht sein Nach¬
folger, mit Sicherheit zu beherrschen im Stande sein wird, zu unterdrücken?
Und die Symptome mehren sich, daß die öffentliche Meinung in einem dem
napoleonischen System feindlichen Sinne sich umzuwandeln im Begriff ist; die
Beherrschung der Geister droht seinen Händen zu entschlüpfen; die Franzosen
fangen an sich zu erinnern, daß die Principien von 1789 neben der Gleichheit
auch die Freiheit als Grundrecht des Volks, ja der Menschheit fordern. Gleich¬
viel ob sie in der harten Schule der Revolution und des Absolutismus das
Wesen der politischen Freiheit zu verstehen gelernt haben, das Streben nach
der vermißten Freiheit hat in Frankreich eine Gewalt, die auch Napoleon zu
berücksichtigen hat. Denn wenn auch kein civilisirtes Volk weniger im Stande
sein mag die errungene Freiheit zu behaupten, so ist andrerseits kein Volk


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wirkenden irdischen Vorsehung besser befriedigte. Napoleons lebhaftestes Be¬
streben ist es, in den Franzosen nicht den leisesten Zweifel darüber aufkommen
zu lassen, daß er zu dieser Rolle persönlich befähigt und berufen ist. Je
gewaltiger die Macht des Nationalwillens ist, aus der seine Souveränetät sich
ableitet, um so mehr muh er bemüht sein, durch seine Leistungen das Vertrauen
des Volkes zu rechtfertigen. Kein Herrscher Europas hat mit gleicher Sorgfalt
von Tag zu Tag die Stimmungen, Neigungen und Abneigungen seines Volkes
zu erforschen wie er, kein Monarch hat in gleichem Maße wie er es nöthig,
für jede seiner Unternehmungen die öffentliche Meinung zu gewinnen. Das ist
die Gefahr seiner Stellung; ihr Vortheil ist, daß die große Masse an seinem
unausgesetzten Eingreifen in alle öffentlichen Verhältnisse, vorausgesetzt, daß er
auf der Linie des Gleichhcitsprincips sich bewegt und bei allem, was er thut,
den handgreiflichen Erfolg für sich hat, keinen ernsten Anstoß nimmt, sondern
im Gegentheil ein derartiges Eingreifen, wenn sie auch gelegentlich darüber
murrt, im Großen und Ganzen doch fordert.

Daß einer so schwierigen Stellung selbst auf kurze Zeit nur ein Mann von
der außerordentlichen Begabung Napoleons gewachsen ist, ist an sich klar. Läßt
sich aber annehmen, daß selbst er ihr auf die Dauer gewachsen ist? Läßt sich
ferner annehmen, daß die Hand, die nach ihm sein Werk fortzuführen berufen
ist, im Stande sein wnd, die feste beherrschende Stellung über den Factionen
zu behaupten, die er einnimmt? Denn, man vergesse nicht, alle Klugheit des
Kaisers ist nicht im Stande, sein Werk zu einem Ruhepunkt zu führen, wo,
wie man sagt, die Dinge von selbst gehen. Mag die Quelle seiner Macht der
Wille des Volks sein, die Bedingung ihres Bestehens ist die unausgesetzte, rast¬
lose kluge Anwendung derselben. Ein Fehlgriff, ein Verkennen der öffentlichen
Meinung kann die Grundlagen des Gebäudes so erschüttern, daß ein minder
starker Wille als der des Kaisers nicht im Stande sein dürfte, den völligen
Umsturz abzuwenden. Wie soll ein Mittel gefunden werden, einen gelegentlich
heftigen Ausbruch der Volksstimme, die kaum Napoleon, gewiß nicht sein Nach¬
folger, mit Sicherheit zu beherrschen im Stande sein wird, zu unterdrücken?
Und die Symptome mehren sich, daß die öffentliche Meinung in einem dem
napoleonischen System feindlichen Sinne sich umzuwandeln im Begriff ist; die
Beherrschung der Geister droht seinen Händen zu entschlüpfen; die Franzosen
fangen an sich zu erinnern, daß die Principien von 1789 neben der Gleichheit
auch die Freiheit als Grundrecht des Volks, ja der Menschheit fordern. Gleich¬
viel ob sie in der harten Schule der Revolution und des Absolutismus das
Wesen der politischen Freiheit zu verstehen gelernt haben, das Streben nach
der vermißten Freiheit hat in Frankreich eine Gewalt, die auch Napoleon zu
berücksichtigen hat. Denn wenn auch kein civilisirtes Volk weniger im Stande
sein mag die errungene Freiheit zu behaupten, so ist andrerseits kein Volk


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[0265] wirkenden irdischen Vorsehung besser befriedigte. Napoleons lebhaftestes Be¬ streben ist es, in den Franzosen nicht den leisesten Zweifel darüber aufkommen zu lassen, daß er zu dieser Rolle persönlich befähigt und berufen ist. Je gewaltiger die Macht des Nationalwillens ist, aus der seine Souveränetät sich ableitet, um so mehr muh er bemüht sein, durch seine Leistungen das Vertrauen des Volkes zu rechtfertigen. Kein Herrscher Europas hat mit gleicher Sorgfalt von Tag zu Tag die Stimmungen, Neigungen und Abneigungen seines Volkes zu erforschen wie er, kein Monarch hat in gleichem Maße wie er es nöthig, für jede seiner Unternehmungen die öffentliche Meinung zu gewinnen. Das ist die Gefahr seiner Stellung; ihr Vortheil ist, daß die große Masse an seinem unausgesetzten Eingreifen in alle öffentlichen Verhältnisse, vorausgesetzt, daß er auf der Linie des Gleichhcitsprincips sich bewegt und bei allem, was er thut, den handgreiflichen Erfolg für sich hat, keinen ernsten Anstoß nimmt, sondern im Gegentheil ein derartiges Eingreifen, wenn sie auch gelegentlich darüber murrt, im Großen und Ganzen doch fordert. Daß einer so schwierigen Stellung selbst auf kurze Zeit nur ein Mann von der außerordentlichen Begabung Napoleons gewachsen ist, ist an sich klar. Läßt sich aber annehmen, daß selbst er ihr auf die Dauer gewachsen ist? Läßt sich ferner annehmen, daß die Hand, die nach ihm sein Werk fortzuführen berufen ist, im Stande sein wnd, die feste beherrschende Stellung über den Factionen zu behaupten, die er einnimmt? Denn, man vergesse nicht, alle Klugheit des Kaisers ist nicht im Stande, sein Werk zu einem Ruhepunkt zu führen, wo, wie man sagt, die Dinge von selbst gehen. Mag die Quelle seiner Macht der Wille des Volks sein, die Bedingung ihres Bestehens ist die unausgesetzte, rast¬ lose kluge Anwendung derselben. Ein Fehlgriff, ein Verkennen der öffentlichen Meinung kann die Grundlagen des Gebäudes so erschüttern, daß ein minder starker Wille als der des Kaisers nicht im Stande sein dürfte, den völligen Umsturz abzuwenden. Wie soll ein Mittel gefunden werden, einen gelegentlich heftigen Ausbruch der Volksstimme, die kaum Napoleon, gewiß nicht sein Nach¬ folger, mit Sicherheit zu beherrschen im Stande sein wird, zu unterdrücken? Und die Symptome mehren sich, daß die öffentliche Meinung in einem dem napoleonischen System feindlichen Sinne sich umzuwandeln im Begriff ist; die Beherrschung der Geister droht seinen Händen zu entschlüpfen; die Franzosen fangen an sich zu erinnern, daß die Principien von 1789 neben der Gleichheit auch die Freiheit als Grundrecht des Volks, ja der Menschheit fordern. Gleich¬ viel ob sie in der harten Schule der Revolution und des Absolutismus das Wesen der politischen Freiheit zu verstehen gelernt haben, das Streben nach der vermißten Freiheit hat in Frankreich eine Gewalt, die auch Napoleon zu berücksichtigen hat. Denn wenn auch kein civilisirtes Volk weniger im Stande sein mag die errungene Freiheit zu behaupten, so ist andrerseits kein Volk 31*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_285025/265>, abgerufen am 28.07.2024.