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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. II. Band.

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in späterer Zeit von den Jsraeliten selbst auf ihre nationalen Leiden ange¬
wandt, und eine solche Beziehung ist auch weit weniger unpassend, als z. B.
die auf die Leiden des Messias, aber ursprünglich ist sie nicht. Diese Klage¬
lieder sind bald sanft ergeben, bald ungeduldig und leidenschaftlich. Bittrer
Haß gegen die, welche die Leiden verursacht haben oder sich schadenfroh zeigen,
tritt nicht selten grell hervor, indem der Hebräer durchgängig seine nationalen
wie persönlichen Feinde mit der ganzen Gluth seines leidenschaftlichen Herzens
haßt. In dieser Hinsicht mildert der religiöse Glaube, welcher diese Dulder
sonst so oft über das Irdische erhebt, sehr wenig. Es ist natürlich ebenso
verkehrt, diese menschlichen Regungen moralisirend zu bekritteln, wie es vor
nicht langer Zeit häufig geschah, als sie mit Hengstenberg für erhaben und
göttlich zu erklären. Das ist freilich nur eine Consequenz der Anschauung,
welcher diese Lieder, wie alles andre Biblische, absolute Religions- und Tugend¬
muster sind.

Geringer als die Zahl der persönlichen ist die der nationalen Klagelieder,
zu denen z. B. die oben besprochenen makkaväischen Psalme gehören. Wünsche
und Fürbitten für das ganze Volk oder dessen König sind nebenbei auch in
manchen Liedern ausgedrückt, deren Hauptinhalt ein ganz anderer ist.

Nicht wenige der Klagelieder erblicken in ihren Leiden eine, freilich sehr
strenge, Strafe ihrer Sünden. Einige dieser Dichter werden von einem tiefen
Schuldbewußtsein niedergebeugt, während andere sich auf ihre Unschuld be¬
rufen, als Hauptbeweggrund für Gott, ihnen zu helfen. Ueberhaupt ist der
religiöse Standpunkt so verschiedener Dichter natürlich nicht genau der gleiche,
wenn auch die Verschiedenheit weniger stark ist. als man vielleicht erwarten
sollte.

Viele Lieder athmen freudigen Dank gegen Gott für die dem Dichter oder
dem ganzen Israel erwiesenen Wohlthaten. In einigen spätern Liedern werden
letztere nach den Erzählungen der geschichtlichen Bücher weitläufig vorgeführt,
so daß wir gleichsam eine poetische Paraphrase jener Berichte erhalten. Be¬
sonderen Eindruck auf uns machen die Lieder, welche Gottes Größe in der
Natur feiern. Manche Loblieder sind ohne Zweifel für die Gemeinde und den
Tempeldienst gemacht. Bei einigen derselben ist es sehr wahrscheinlich, daß sie
für ein besonderes Fest, wie das Passah, gedichtet sind. In dem ganz litur¬
gischen Psalm 118 ist deutlich ein Wechsel der Stimmen zu bemerken.

Religiöse Lyrik geht leicht in Betrachtung über und nähert sich dem Didak¬
tischen. Dieses Element tritt in manchen Psalmen nebenbei hervor: andere
sind ganz lehrhaft. Wir haben da ruhige Betrachtungen über Gott und die
Verhältnisse der sittlichen Welt, meist nur aus einer losen Aneinanderreihung
einzelner Sprüche bestehend, die höchstens kurz auf die eignen Verhältnisse des
Dichters angewandt werden. Die Reflexion, auf der diese Gedichte beruhn,


in späterer Zeit von den Jsraeliten selbst auf ihre nationalen Leiden ange¬
wandt, und eine solche Beziehung ist auch weit weniger unpassend, als z. B.
die auf die Leiden des Messias, aber ursprünglich ist sie nicht. Diese Klage¬
lieder sind bald sanft ergeben, bald ungeduldig und leidenschaftlich. Bittrer
Haß gegen die, welche die Leiden verursacht haben oder sich schadenfroh zeigen,
tritt nicht selten grell hervor, indem der Hebräer durchgängig seine nationalen
wie persönlichen Feinde mit der ganzen Gluth seines leidenschaftlichen Herzens
haßt. In dieser Hinsicht mildert der religiöse Glaube, welcher diese Dulder
sonst so oft über das Irdische erhebt, sehr wenig. Es ist natürlich ebenso
verkehrt, diese menschlichen Regungen moralisirend zu bekritteln, wie es vor
nicht langer Zeit häufig geschah, als sie mit Hengstenberg für erhaben und
göttlich zu erklären. Das ist freilich nur eine Consequenz der Anschauung,
welcher diese Lieder, wie alles andre Biblische, absolute Religions- und Tugend¬
muster sind.

Geringer als die Zahl der persönlichen ist die der nationalen Klagelieder,
zu denen z. B. die oben besprochenen makkaväischen Psalme gehören. Wünsche
und Fürbitten für das ganze Volk oder dessen König sind nebenbei auch in
manchen Liedern ausgedrückt, deren Hauptinhalt ein ganz anderer ist.

Nicht wenige der Klagelieder erblicken in ihren Leiden eine, freilich sehr
strenge, Strafe ihrer Sünden. Einige dieser Dichter werden von einem tiefen
Schuldbewußtsein niedergebeugt, während andere sich auf ihre Unschuld be¬
rufen, als Hauptbeweggrund für Gott, ihnen zu helfen. Ueberhaupt ist der
religiöse Standpunkt so verschiedener Dichter natürlich nicht genau der gleiche,
wenn auch die Verschiedenheit weniger stark ist. als man vielleicht erwarten
sollte.

Viele Lieder athmen freudigen Dank gegen Gott für die dem Dichter oder
dem ganzen Israel erwiesenen Wohlthaten. In einigen spätern Liedern werden
letztere nach den Erzählungen der geschichtlichen Bücher weitläufig vorgeführt,
so daß wir gleichsam eine poetische Paraphrase jener Berichte erhalten. Be¬
sonderen Eindruck auf uns machen die Lieder, welche Gottes Größe in der
Natur feiern. Manche Loblieder sind ohne Zweifel für die Gemeinde und den
Tempeldienst gemacht. Bei einigen derselben ist es sehr wahrscheinlich, daß sie
für ein besonderes Fest, wie das Passah, gedichtet sind. In dem ganz litur¬
gischen Psalm 118 ist deutlich ein Wechsel der Stimmen zu bemerken.

Religiöse Lyrik geht leicht in Betrachtung über und nähert sich dem Didak¬
tischen. Dieses Element tritt in manchen Psalmen nebenbei hervor: andere
sind ganz lehrhaft. Wir haben da ruhige Betrachtungen über Gott und die
Verhältnisse der sittlichen Welt, meist nur aus einer losen Aneinanderreihung
einzelner Sprüche bestehend, die höchstens kurz auf die eignen Verhältnisse des
Dichters angewandt werden. Die Reflexion, auf der diese Gedichte beruhn,


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[0150] in späterer Zeit von den Jsraeliten selbst auf ihre nationalen Leiden ange¬ wandt, und eine solche Beziehung ist auch weit weniger unpassend, als z. B. die auf die Leiden des Messias, aber ursprünglich ist sie nicht. Diese Klage¬ lieder sind bald sanft ergeben, bald ungeduldig und leidenschaftlich. Bittrer Haß gegen die, welche die Leiden verursacht haben oder sich schadenfroh zeigen, tritt nicht selten grell hervor, indem der Hebräer durchgängig seine nationalen wie persönlichen Feinde mit der ganzen Gluth seines leidenschaftlichen Herzens haßt. In dieser Hinsicht mildert der religiöse Glaube, welcher diese Dulder sonst so oft über das Irdische erhebt, sehr wenig. Es ist natürlich ebenso verkehrt, diese menschlichen Regungen moralisirend zu bekritteln, wie es vor nicht langer Zeit häufig geschah, als sie mit Hengstenberg für erhaben und göttlich zu erklären. Das ist freilich nur eine Consequenz der Anschauung, welcher diese Lieder, wie alles andre Biblische, absolute Religions- und Tugend¬ muster sind. Geringer als die Zahl der persönlichen ist die der nationalen Klagelieder, zu denen z. B. die oben besprochenen makkaväischen Psalme gehören. Wünsche und Fürbitten für das ganze Volk oder dessen König sind nebenbei auch in manchen Liedern ausgedrückt, deren Hauptinhalt ein ganz anderer ist. Nicht wenige der Klagelieder erblicken in ihren Leiden eine, freilich sehr strenge, Strafe ihrer Sünden. Einige dieser Dichter werden von einem tiefen Schuldbewußtsein niedergebeugt, während andere sich auf ihre Unschuld be¬ rufen, als Hauptbeweggrund für Gott, ihnen zu helfen. Ueberhaupt ist der religiöse Standpunkt so verschiedener Dichter natürlich nicht genau der gleiche, wenn auch die Verschiedenheit weniger stark ist. als man vielleicht erwarten sollte. Viele Lieder athmen freudigen Dank gegen Gott für die dem Dichter oder dem ganzen Israel erwiesenen Wohlthaten. In einigen spätern Liedern werden letztere nach den Erzählungen der geschichtlichen Bücher weitläufig vorgeführt, so daß wir gleichsam eine poetische Paraphrase jener Berichte erhalten. Be¬ sonderen Eindruck auf uns machen die Lieder, welche Gottes Größe in der Natur feiern. Manche Loblieder sind ohne Zweifel für die Gemeinde und den Tempeldienst gemacht. Bei einigen derselben ist es sehr wahrscheinlich, daß sie für ein besonderes Fest, wie das Passah, gedichtet sind. In dem ganz litur¬ gischen Psalm 118 ist deutlich ein Wechsel der Stimmen zu bemerken. Religiöse Lyrik geht leicht in Betrachtung über und nähert sich dem Didak¬ tischen. Dieses Element tritt in manchen Psalmen nebenbei hervor: andere sind ganz lehrhaft. Wir haben da ruhige Betrachtungen über Gott und die Verhältnisse der sittlichen Welt, meist nur aus einer losen Aneinanderreihung einzelner Sprüche bestehend, die höchstens kurz auf die eignen Verhältnisse des Dichters angewandt werden. Die Reflexion, auf der diese Gedichte beruhn,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_285025/150>, abgerufen am 28.07.2024.