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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. II. Band.

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der anderen, an das Königreich Sardinien. Historisch betrachtet ist der Ein¬
heitsstaat nichts Anderes als die Fortsetzung und Erweiterung des subalpinischcn
Königreichs, er ist dessen unmittelbarer Rechtsnachfolger, wofern nicht spater
ausdrücklich Rechte und Gesetze abgeändert worden sind. Dieselbe Dynastie
und dieselbe Verfassung bezeugen diese RcchtscontinuitciN und so unmißverständ¬
lich ist diese ausgesprochen, daß der erste König von Italien den Titel Victor
Emanuel der Zweite beibehalten hat und das Parlament, das jetzt versammelt
ist. sich in seiner neunten Legislaturperiode befindet. Wie aber -- wurde fort-
gefahren -- ist es überhaupt möglich, das Königreich Sardinien mit den ge¬
kürzten Staaten auf eine und dieselbe Stufe zu stellen? Piemont hat seit dem
Jahr 1848 standhaft die nationale Fahne hochgehalten, in seinem Lager war
Italien, ein Verbrecher an ihm war ein Verbrecher an der Majestät Italiens,
an derselben Dynastie und Verfassung, unter welcher wir jetzt geeinigt sind. Ver¬
gebens suchte Nicotera, wohleingeweiht in die damaligen Vorgänge, zu zeigen,
daß der eigentliche Zweck des Unternehmens nicht gegen Piemont, sondern gegen
Neapel gerichtet gewesen sei. schlagend war die Entgegnung des Justizministers,
daß jene Schildwache in Fort Diamante, der von einer mazzinistischen Kugel
das Gesicht hinweggerissen wurde, in der Vertheidigung der nationalen Tricolore
SW, zu deren Bewachung sie ausgestellt war. Vergebens rief Crispi erhitzt:
So wollt ihr also das System der Annexionen, die Politik der Artischocke
sanctioniren? Die Geschichte hatte längst die Antwort ertheilt: allerdings durch
das System der Annexionen und durch nichts Anderes.ist die Einheit Italiens
SU Stand gekommen, und sie wäre heute noch ein Traum, wenn nicht dieses
System den Sieg über die ideologischen Programme davongetragen hätte.

Die Kammer hat am 22. März mit großer Mehrheit die Ansicht ihres
Ausschusses und der Negierung zu der ihrigen gemacht und die Wahl Mazzinis
annullirt. Den Ausschlag gab indeß natürlich weniger diese staatsrechtliche
Argumentation, obwohl um sie vorzugsweise die Debatte sich drehte, sondern
politische Gründe. Man konnte der Regierung unmöglich zumuthen. den kon¬
stanten Verschwörer, den erklärten Republikaner durch diese Hinterthür zu reha-
bllitiren. Ein gewisser Anstand machte dies schon gegenüber der Krone unmög¬
lich. Aber auch dem Ausland gegenüber mochte man sich vor einem Schritte
hüten, der mißdeutet werden und die internationale Ebenbürtigkeit, die das
Königreich sich errungen, einigermaßen compromittiren konnte. Gleichwohl bleibt
es ein peinlicher Umstand, daß einem Mann, der in so hervorragender Weise für
die Wiedergeburt seines Vaterlands thätig gewesen ist, die Rückkehr verschlossen
bleibt, und Mitglieder der Mehrheit haben unter lebhafter Anerkennung seiner
Verdienste diesem Bedauern Ausdruck gegeben. Grade der Einheitsgedanke hat
keinen rastloseren und unbeugsameren Verfechter gehabt als ihn, und er war
immer durch eine weite Kluft von denjenigen seiner radicalen Genossen getrennt,


der anderen, an das Königreich Sardinien. Historisch betrachtet ist der Ein¬
heitsstaat nichts Anderes als die Fortsetzung und Erweiterung des subalpinischcn
Königreichs, er ist dessen unmittelbarer Rechtsnachfolger, wofern nicht spater
ausdrücklich Rechte und Gesetze abgeändert worden sind. Dieselbe Dynastie
und dieselbe Verfassung bezeugen diese RcchtscontinuitciN und so unmißverständ¬
lich ist diese ausgesprochen, daß der erste König von Italien den Titel Victor
Emanuel der Zweite beibehalten hat und das Parlament, das jetzt versammelt
ist. sich in seiner neunten Legislaturperiode befindet. Wie aber — wurde fort-
gefahren — ist es überhaupt möglich, das Königreich Sardinien mit den ge¬
kürzten Staaten auf eine und dieselbe Stufe zu stellen? Piemont hat seit dem
Jahr 1848 standhaft die nationale Fahne hochgehalten, in seinem Lager war
Italien, ein Verbrecher an ihm war ein Verbrecher an der Majestät Italiens,
an derselben Dynastie und Verfassung, unter welcher wir jetzt geeinigt sind. Ver¬
gebens suchte Nicotera, wohleingeweiht in die damaligen Vorgänge, zu zeigen,
daß der eigentliche Zweck des Unternehmens nicht gegen Piemont, sondern gegen
Neapel gerichtet gewesen sei. schlagend war die Entgegnung des Justizministers,
daß jene Schildwache in Fort Diamante, der von einer mazzinistischen Kugel
das Gesicht hinweggerissen wurde, in der Vertheidigung der nationalen Tricolore
SW, zu deren Bewachung sie ausgestellt war. Vergebens rief Crispi erhitzt:
So wollt ihr also das System der Annexionen, die Politik der Artischocke
sanctioniren? Die Geschichte hatte längst die Antwort ertheilt: allerdings durch
das System der Annexionen und durch nichts Anderes.ist die Einheit Italiens
SU Stand gekommen, und sie wäre heute noch ein Traum, wenn nicht dieses
System den Sieg über die ideologischen Programme davongetragen hätte.

Die Kammer hat am 22. März mit großer Mehrheit die Ansicht ihres
Ausschusses und der Negierung zu der ihrigen gemacht und die Wahl Mazzinis
annullirt. Den Ausschlag gab indeß natürlich weniger diese staatsrechtliche
Argumentation, obwohl um sie vorzugsweise die Debatte sich drehte, sondern
politische Gründe. Man konnte der Regierung unmöglich zumuthen. den kon¬
stanten Verschwörer, den erklärten Republikaner durch diese Hinterthür zu reha-
bllitiren. Ein gewisser Anstand machte dies schon gegenüber der Krone unmög¬
lich. Aber auch dem Ausland gegenüber mochte man sich vor einem Schritte
hüten, der mißdeutet werden und die internationale Ebenbürtigkeit, die das
Königreich sich errungen, einigermaßen compromittiren konnte. Gleichwohl bleibt
es ein peinlicher Umstand, daß einem Mann, der in so hervorragender Weise für
die Wiedergeburt seines Vaterlands thätig gewesen ist, die Rückkehr verschlossen
bleibt, und Mitglieder der Mehrheit haben unter lebhafter Anerkennung seiner
Verdienste diesem Bedauern Ausdruck gegeben. Grade der Einheitsgedanke hat
keinen rastloseren und unbeugsameren Verfechter gehabt als ihn, und er war
immer durch eine weite Kluft von denjenigen seiner radicalen Genossen getrennt,


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[0101] der anderen, an das Königreich Sardinien. Historisch betrachtet ist der Ein¬ heitsstaat nichts Anderes als die Fortsetzung und Erweiterung des subalpinischcn Königreichs, er ist dessen unmittelbarer Rechtsnachfolger, wofern nicht spater ausdrücklich Rechte und Gesetze abgeändert worden sind. Dieselbe Dynastie und dieselbe Verfassung bezeugen diese RcchtscontinuitciN und so unmißverständ¬ lich ist diese ausgesprochen, daß der erste König von Italien den Titel Victor Emanuel der Zweite beibehalten hat und das Parlament, das jetzt versammelt ist. sich in seiner neunten Legislaturperiode befindet. Wie aber — wurde fort- gefahren — ist es überhaupt möglich, das Königreich Sardinien mit den ge¬ kürzten Staaten auf eine und dieselbe Stufe zu stellen? Piemont hat seit dem Jahr 1848 standhaft die nationale Fahne hochgehalten, in seinem Lager war Italien, ein Verbrecher an ihm war ein Verbrecher an der Majestät Italiens, an derselben Dynastie und Verfassung, unter welcher wir jetzt geeinigt sind. Ver¬ gebens suchte Nicotera, wohleingeweiht in die damaligen Vorgänge, zu zeigen, daß der eigentliche Zweck des Unternehmens nicht gegen Piemont, sondern gegen Neapel gerichtet gewesen sei. schlagend war die Entgegnung des Justizministers, daß jene Schildwache in Fort Diamante, der von einer mazzinistischen Kugel das Gesicht hinweggerissen wurde, in der Vertheidigung der nationalen Tricolore SW, zu deren Bewachung sie ausgestellt war. Vergebens rief Crispi erhitzt: So wollt ihr also das System der Annexionen, die Politik der Artischocke sanctioniren? Die Geschichte hatte längst die Antwort ertheilt: allerdings durch das System der Annexionen und durch nichts Anderes.ist die Einheit Italiens SU Stand gekommen, und sie wäre heute noch ein Traum, wenn nicht dieses System den Sieg über die ideologischen Programme davongetragen hätte. Die Kammer hat am 22. März mit großer Mehrheit die Ansicht ihres Ausschusses und der Negierung zu der ihrigen gemacht und die Wahl Mazzinis annullirt. Den Ausschlag gab indeß natürlich weniger diese staatsrechtliche Argumentation, obwohl um sie vorzugsweise die Debatte sich drehte, sondern politische Gründe. Man konnte der Regierung unmöglich zumuthen. den kon¬ stanten Verschwörer, den erklärten Republikaner durch diese Hinterthür zu reha- bllitiren. Ein gewisser Anstand machte dies schon gegenüber der Krone unmög¬ lich. Aber auch dem Ausland gegenüber mochte man sich vor einem Schritte hüten, der mißdeutet werden und die internationale Ebenbürtigkeit, die das Königreich sich errungen, einigermaßen compromittiren konnte. Gleichwohl bleibt es ein peinlicher Umstand, daß einem Mann, der in so hervorragender Weise für die Wiedergeburt seines Vaterlands thätig gewesen ist, die Rückkehr verschlossen bleibt, und Mitglieder der Mehrheit haben unter lebhafter Anerkennung seiner Verdienste diesem Bedauern Ausdruck gegeben. Grade der Einheitsgedanke hat keinen rastloseren und unbeugsameren Verfechter gehabt als ihn, und er war immer durch eine weite Kluft von denjenigen seiner radicalen Genossen getrennt,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_285025/101>, abgerufen am 01.09.2024.