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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. II. Band.

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Von der staatsrechtlichen Seite her ist kürzlich das Verhältniß des alten
sardinischen Staats zum Königreich Italien Gegenstand einer interessanten
Controverse gewesen aus Anlaß der Wahl Mazzinis ins Parlament.

Jene allgemeine politische Verstimmung hatte auch dies zur Folge, daß der
fast verschollene Name des großen Agitators wieder hervorgesucht wurde. Man
braucht in Italien, um auf das Volt zu wirken, einen concreten Namen, einen
Heiligen, einen Erlöser, dem es in mystischer Ueberschwänglichkeit seine Verehrung
zollen kann.. Lange Zeit hatte Garibaldi diese Rolle übernehmen müssen, aber
er schien sich dazu immer weniger zu eignen, seit er seinen Frieden mit der
Regierung gemacht und in die Einsamkeit von Caprera sich eingesponnen hat.
Jetzt erinnerte man sich des unbeugsamen Verbannten von Genua, des Urhebers
des mystischen Programms alio e xoxolo, und nichts empfahl ihn besser, als
daß er, der jetzigen Generation eigentlich fremd geworden, im verklärenden
Dämmerschein einer mythischen Tradition stand. Zwar die Versuche, ihn an
einem Ort ersten Rangs wie Neapel oder Genua durchzubringen, schlugen fehl.
Aber auf der Insel Sicilien fand sich endlich ein Wahlcollegium, das zu der
Demonstration sich willfährig zeigte. Denn um eine Demonstration handelte
es sich, nicht um die Rehabilitation des Verbannten -- jedermann wußte, daß
Mazzini nie den Eid leisten und im Parlament erscheinen werde -- um ein
Symbol der Unzufriedenheit, eine Verlegenheit für die Regierung.

Und diese Verlegenheit schien wirklich vorhanden. Es lag gegen Mazzin.
die Verurtheilung durch ein französisches Gericht vor; von dieser wurde tactvoll
Umgang genommen. Es lag gegen ihn ferner vor die Verurtheilung des Appell¬
hofs von Genua wegen des Aufruhrs, der im Jahr 18S7 in dieser Stadt ver
sucht wurde, um eine Unterstützung der Expedition Pisacanes gegen Neapel zu
erzwingen. Die fortdauernde Nechtskräftigkeit dieses Urtheils war die Frage.
Mazzini war damals in eontmrmeiirm zum Tod verurtheilt, das Urtheil war
nie reparirt worden, es schloß von selbst die Wählbarkeit ins Parlament aus.
Aber, behaupteten nun die Freunde Mazzinis, dieses Urtheil ist vom alten
sardinischen Staat ausgesprochen worden, dieser Staat existirt nicht mehr, folg¬
lich sind auch seine Acte hinfällig. Es sitzen im Parlament verschiedene Mit¬
glieder, die von den alten Regierungen gleichfalls zum Tod verurtheilt worden
sind, und deren Verurtheilung durch die Unifikation von selbst aufgehoben worden
ist. Wie Neapel und die andern Staaten ist auch Piemont im Nationalstaat
aufgegangen, und es darf kein Privileg beanspruchen vor den übrigen Provinzen.
Diese Argumentation hatten die Redner der Regierung zu entkräften, und sie
thaten es. indem sie darauf hinwiesen, wie der Einheitsstaat historisch geworden
ist. Nicht durch Aufhebung sämmtlicher Einzelstaaten, nicht durch ein souveränes
Parlament, das aus dem Nichts die Einheit hervordeclamirte, ist der National¬
staat geworden, sondern durch allmäligen Anschluß der Provinzen, einer nach


Von der staatsrechtlichen Seite her ist kürzlich das Verhältniß des alten
sardinischen Staats zum Königreich Italien Gegenstand einer interessanten
Controverse gewesen aus Anlaß der Wahl Mazzinis ins Parlament.

Jene allgemeine politische Verstimmung hatte auch dies zur Folge, daß der
fast verschollene Name des großen Agitators wieder hervorgesucht wurde. Man
braucht in Italien, um auf das Volt zu wirken, einen concreten Namen, einen
Heiligen, einen Erlöser, dem es in mystischer Ueberschwänglichkeit seine Verehrung
zollen kann.. Lange Zeit hatte Garibaldi diese Rolle übernehmen müssen, aber
er schien sich dazu immer weniger zu eignen, seit er seinen Frieden mit der
Regierung gemacht und in die Einsamkeit von Caprera sich eingesponnen hat.
Jetzt erinnerte man sich des unbeugsamen Verbannten von Genua, des Urhebers
des mystischen Programms alio e xoxolo, und nichts empfahl ihn besser, als
daß er, der jetzigen Generation eigentlich fremd geworden, im verklärenden
Dämmerschein einer mythischen Tradition stand. Zwar die Versuche, ihn an
einem Ort ersten Rangs wie Neapel oder Genua durchzubringen, schlugen fehl.
Aber auf der Insel Sicilien fand sich endlich ein Wahlcollegium, das zu der
Demonstration sich willfährig zeigte. Denn um eine Demonstration handelte
es sich, nicht um die Rehabilitation des Verbannten — jedermann wußte, daß
Mazzini nie den Eid leisten und im Parlament erscheinen werde — um ein
Symbol der Unzufriedenheit, eine Verlegenheit für die Regierung.

Und diese Verlegenheit schien wirklich vorhanden. Es lag gegen Mazzin.
die Verurtheilung durch ein französisches Gericht vor; von dieser wurde tactvoll
Umgang genommen. Es lag gegen ihn ferner vor die Verurtheilung des Appell¬
hofs von Genua wegen des Aufruhrs, der im Jahr 18S7 in dieser Stadt ver
sucht wurde, um eine Unterstützung der Expedition Pisacanes gegen Neapel zu
erzwingen. Die fortdauernde Nechtskräftigkeit dieses Urtheils war die Frage.
Mazzini war damals in eontmrmeiirm zum Tod verurtheilt, das Urtheil war
nie reparirt worden, es schloß von selbst die Wählbarkeit ins Parlament aus.
Aber, behaupteten nun die Freunde Mazzinis, dieses Urtheil ist vom alten
sardinischen Staat ausgesprochen worden, dieser Staat existirt nicht mehr, folg¬
lich sind auch seine Acte hinfällig. Es sitzen im Parlament verschiedene Mit¬
glieder, die von den alten Regierungen gleichfalls zum Tod verurtheilt worden
sind, und deren Verurtheilung durch die Unifikation von selbst aufgehoben worden
ist. Wie Neapel und die andern Staaten ist auch Piemont im Nationalstaat
aufgegangen, und es darf kein Privileg beanspruchen vor den übrigen Provinzen.
Diese Argumentation hatten die Redner der Regierung zu entkräften, und sie
thaten es. indem sie darauf hinwiesen, wie der Einheitsstaat historisch geworden
ist. Nicht durch Aufhebung sämmtlicher Einzelstaaten, nicht durch ein souveränes
Parlament, das aus dem Nichts die Einheit hervordeclamirte, ist der National¬
staat geworden, sondern durch allmäligen Anschluß der Provinzen, einer nach


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_285025/100>, abgerufen am 28.07.2024.