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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. I. Band.

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vermag. Die Fülle und Reichlichkeit und die ruhig gleichförmige Bewegung, in
welcher das homerische Epos seine Heldengruppen schaut, ist der einzige Vorzug
hellenischer Poesie z. B. gegenüber der deutschen, wo trotz tiefsinniger Empfin¬
dung und sinniger Freude an den Charakteren der Helden die Wirkung da¬
durch beeinträchtigt wird, daß die Bilder häufig nur in einzelnen kurzen Augen¬
blicken dem Dichter aufzucken, dann freilich wohl in überwältigender Macht und
Schönheit. Aber das Kurze dieser Anschauungen und die relative Unbeweglichkeit
der geschauten Gruppen giebt der ältesten deutschen Poesie etwas Starres, Frag¬
mentarisches, Zerhacktes. Bei den Griechen dagegen war es kein Zufall, daß
Maler und Bildhauer nicht müde wurden, die Situationen Homers als ihr
Eigenthum zu betrachten und nachzubilden, und daß Aristoteles den Mann,
welchen er als Sänger der Ilias und Odyssee betrachtet, in gewissem Sinn auch
den ersten Dramatiker nennt.

Aber der epische Dichter sieht nicht nur seine Gebilde leibhaftig vor sich,
er hört dabei auch musikalischen Klang, die Beschreibung, welche er von ihnen
giebt, und ihre Reden empfindet er in rhythmischem Takt und melodischem Ton¬
falle. Auch hier ist seiner Rede das Maß und seiner Recitation ein gewisser
melodischer Lauf gegeben, auch hier prägt er mit Sicherheit den geistigen In¬
halt und die Empfindung in gegebenen Grundformen aus, leicht und freudig
innerhalb der eng gesteckten Grenzen schaffend.

Sehr fremdartig ist für uns solche Dichterarbeit, denn weit regelvoller,
innerlicher und stärker mit Absicht versetzt pflegt unser Schaffen zu sein.
Dennoch ist die alte Methode auch in unserer Zeit nicht unerhört. Und wenn
diese Betrachtung nach langem Abschweif zu Otto Ludwig zurückkehrt, so ge¬
schieht es, um aus seinen Worten zu beweisen, daß in einem Deutschen des
neunzehnten Jahrhunderts einmal die uralte und seltsame Arbeit eines Dichter¬
gemüthes aus grauer Borzeit wieder lebendig geworden ist. Für diesen Zweck
wird hier eine Aufzeichnung mitgetheilt, welche sich im Nachlaß des Verstorbenen
vorfand. Sie gehört zu den denkwürdigsten Bekenntnissen eines Dichters. Daß
sie durchaus wahrhaft, ja auch ohne Selbsttäuschung niedergeschrieben ist. lehrt
der Augenschein, wer irgendwie das lautere Gemüth des Verstorbenen gekannt
hat und die Strenge, mit welcher er sich selbst beobachtete, dem wird ohne¬
dies jeder Zweifel als unrecht erscheinen.

So aber schildert Otto Ludwig sein poetisches Schaffen:

"Mein Verfahren ist dies: Es geht eine Stimmung voraus, eine mustka-
lische, die wird mir zur Farbe, dann seh' ich Gestalten, eine oder mehre in
irgendeiner Stellung und Geberdung für sich oder gegen einander, und dies
wie einen Kupferstich auf Papier von jener Farbe, oder genauer ausgedrückt
wie eine Marmorstatue oder plastische Gruppe, auf welche die Sonne durch einen
Vorhang fällt, der jene Farbe hat. Diese Farbenerscheinung hab' ich auch,


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vermag. Die Fülle und Reichlichkeit und die ruhig gleichförmige Bewegung, in
welcher das homerische Epos seine Heldengruppen schaut, ist der einzige Vorzug
hellenischer Poesie z. B. gegenüber der deutschen, wo trotz tiefsinniger Empfin¬
dung und sinniger Freude an den Charakteren der Helden die Wirkung da¬
durch beeinträchtigt wird, daß die Bilder häufig nur in einzelnen kurzen Augen¬
blicken dem Dichter aufzucken, dann freilich wohl in überwältigender Macht und
Schönheit. Aber das Kurze dieser Anschauungen und die relative Unbeweglichkeit
der geschauten Gruppen giebt der ältesten deutschen Poesie etwas Starres, Frag¬
mentarisches, Zerhacktes. Bei den Griechen dagegen war es kein Zufall, daß
Maler und Bildhauer nicht müde wurden, die Situationen Homers als ihr
Eigenthum zu betrachten und nachzubilden, und daß Aristoteles den Mann,
welchen er als Sänger der Ilias und Odyssee betrachtet, in gewissem Sinn auch
den ersten Dramatiker nennt.

Aber der epische Dichter sieht nicht nur seine Gebilde leibhaftig vor sich,
er hört dabei auch musikalischen Klang, die Beschreibung, welche er von ihnen
giebt, und ihre Reden empfindet er in rhythmischem Takt und melodischem Ton¬
falle. Auch hier ist seiner Rede das Maß und seiner Recitation ein gewisser
melodischer Lauf gegeben, auch hier prägt er mit Sicherheit den geistigen In¬
halt und die Empfindung in gegebenen Grundformen aus, leicht und freudig
innerhalb der eng gesteckten Grenzen schaffend.

Sehr fremdartig ist für uns solche Dichterarbeit, denn weit regelvoller,
innerlicher und stärker mit Absicht versetzt pflegt unser Schaffen zu sein.
Dennoch ist die alte Methode auch in unserer Zeit nicht unerhört. Und wenn
diese Betrachtung nach langem Abschweif zu Otto Ludwig zurückkehrt, so ge¬
schieht es, um aus seinen Worten zu beweisen, daß in einem Deutschen des
neunzehnten Jahrhunderts einmal die uralte und seltsame Arbeit eines Dichter¬
gemüthes aus grauer Borzeit wieder lebendig geworden ist. Für diesen Zweck
wird hier eine Aufzeichnung mitgetheilt, welche sich im Nachlaß des Verstorbenen
vorfand. Sie gehört zu den denkwürdigsten Bekenntnissen eines Dichters. Daß
sie durchaus wahrhaft, ja auch ohne Selbsttäuschung niedergeschrieben ist. lehrt
der Augenschein, wer irgendwie das lautere Gemüth des Verstorbenen gekannt
hat und die Strenge, mit welcher er sich selbst beobachtete, dem wird ohne¬
dies jeder Zweifel als unrecht erscheinen.

So aber schildert Otto Ludwig sein poetisches Schaffen:

„Mein Verfahren ist dies: Es geht eine Stimmung voraus, eine mustka-
lische, die wird mir zur Farbe, dann seh' ich Gestalten, eine oder mehre in
irgendeiner Stellung und Geberdung für sich oder gegen einander, und dies
wie einen Kupferstich auf Papier von jener Farbe, oder genauer ausgedrückt
wie eine Marmorstatue oder plastische Gruppe, auf welche die Sonne durch einen
Vorhang fällt, der jene Farbe hat. Diese Farbenerscheinung hab' ich auch,


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[0059] vermag. Die Fülle und Reichlichkeit und die ruhig gleichförmige Bewegung, in welcher das homerische Epos seine Heldengruppen schaut, ist der einzige Vorzug hellenischer Poesie z. B. gegenüber der deutschen, wo trotz tiefsinniger Empfin¬ dung und sinniger Freude an den Charakteren der Helden die Wirkung da¬ durch beeinträchtigt wird, daß die Bilder häufig nur in einzelnen kurzen Augen¬ blicken dem Dichter aufzucken, dann freilich wohl in überwältigender Macht und Schönheit. Aber das Kurze dieser Anschauungen und die relative Unbeweglichkeit der geschauten Gruppen giebt der ältesten deutschen Poesie etwas Starres, Frag¬ mentarisches, Zerhacktes. Bei den Griechen dagegen war es kein Zufall, daß Maler und Bildhauer nicht müde wurden, die Situationen Homers als ihr Eigenthum zu betrachten und nachzubilden, und daß Aristoteles den Mann, welchen er als Sänger der Ilias und Odyssee betrachtet, in gewissem Sinn auch den ersten Dramatiker nennt. Aber der epische Dichter sieht nicht nur seine Gebilde leibhaftig vor sich, er hört dabei auch musikalischen Klang, die Beschreibung, welche er von ihnen giebt, und ihre Reden empfindet er in rhythmischem Takt und melodischem Ton¬ falle. Auch hier ist seiner Rede das Maß und seiner Recitation ein gewisser melodischer Lauf gegeben, auch hier prägt er mit Sicherheit den geistigen In¬ halt und die Empfindung in gegebenen Grundformen aus, leicht und freudig innerhalb der eng gesteckten Grenzen schaffend. Sehr fremdartig ist für uns solche Dichterarbeit, denn weit regelvoller, innerlicher und stärker mit Absicht versetzt pflegt unser Schaffen zu sein. Dennoch ist die alte Methode auch in unserer Zeit nicht unerhört. Und wenn diese Betrachtung nach langem Abschweif zu Otto Ludwig zurückkehrt, so ge¬ schieht es, um aus seinen Worten zu beweisen, daß in einem Deutschen des neunzehnten Jahrhunderts einmal die uralte und seltsame Arbeit eines Dichter¬ gemüthes aus grauer Borzeit wieder lebendig geworden ist. Für diesen Zweck wird hier eine Aufzeichnung mitgetheilt, welche sich im Nachlaß des Verstorbenen vorfand. Sie gehört zu den denkwürdigsten Bekenntnissen eines Dichters. Daß sie durchaus wahrhaft, ja auch ohne Selbsttäuschung niedergeschrieben ist. lehrt der Augenschein, wer irgendwie das lautere Gemüth des Verstorbenen gekannt hat und die Strenge, mit welcher er sich selbst beobachtete, dem wird ohne¬ dies jeder Zweifel als unrecht erscheinen. So aber schildert Otto Ludwig sein poetisches Schaffen: „Mein Verfahren ist dies: Es geht eine Stimmung voraus, eine mustka- lische, die wird mir zur Farbe, dann seh' ich Gestalten, eine oder mehre in irgendeiner Stellung und Geberdung für sich oder gegen einander, und dies wie einen Kupferstich auf Papier von jener Farbe, oder genauer ausgedrückt wie eine Marmorstatue oder plastische Gruppe, auf welche die Sonne durch einen Vorhang fällt, der jene Farbe hat. Diese Farbenerscheinung hab' ich auch, 7*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_284469/59>, abgerufen am 29.06.2024.