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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. I. Band.

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gabung ist zugleich der Weltkundige und vielleicht der Seher seines Stammes,
er ist Sänger und musikalischer Künstler. In seinen Träumen erscheinen sogar
die bildenden Künste auf einer Stufe, welche er ahnt, bevor sie erreicht ist.
Er schildert die Halle des Königs so groß und reich geschmückt', wie sie zu
seiner Zeit in Wirklichkeit noch nicht ist, er bildet begeistert in Vers die
schöne Arbeit eines Halsschmucks, eines Trinkgefäßes, einer Waffenrüstung.
Was ihm irgendeinmal von den schwachen Kunstversuchen der Zeitgenossen ge¬
fiel, das wird von ihm zu kostbarem Prachtwerk ausgemalt. Aber während er
dichtet, ist er noch in anderer Weise ein Maler. Die ehrwürdigen Gestalten
der Götter- und Heldensage steigen vor seinem innern Sinn in einzelnen Situa¬
tionen gewaltig und reizvoll auf, er schaut sie, wie sie sich bewegen, einander
grüßend zuneigen, wie sie den Speer werfen, beim Fest in der Königshalle
sitzen, deutlich sieht er das Kleid, das sie umhüllt, die charakteristische Bewegung
des Hauptes und der Hände, er erblickt die luftige Gestalt der Göttin,
welche aus der Fluth steigt und dem Helden ihren rettenden Schleier zuwirft,
oder den Helden, welcher ihr den Schleier raubt, und die Göttin, welche wie ein
Vogel über der Fluth schwebt, weil sie das Schwanenhemd nicht missen will.
Alles Bedeutsame erkennt er deutlich bis in Einzelheiten. Und zuverlässig vermöchte
er selbst nicht immer zu unterscheiden, ob solches Bild nur innere Anschauung
war, oder ob es sich fühlbar vor seinen Augen in der Landschaft erhob. -- Frei¬
lich, nicht ebenso detaillirt empfindet er das innere Leben seiner Gestalten, er
hält einen charakteristischen Grundzug an seinen Helden fest, der sich ausprägt
in ihrer äußeren Erscheinung und in jeder Rede, und behaglich variirt er in
vielen einzelnen Situationen dies gefundene Charakteristische. Er erfindet auch
nicht die Handlung wie ein moderner Dichter, denn auch der Verlauf der Er¬
eignisse ist ihm in der Hauptsache gegeben, die Kunde davon ist Habe seines
Volkes so gut wie seine eigene. Er begnügt sich, die Momente, welche ihn
poetisch anregen, stark hervorzuheben, er fühlt bei der Lebhaftigkeit seiner Bilder
ganz sicher, daß die Ereignisse so, wie er sie darstellt, sich zugetragen haben
müssen, und er wirft, was aus der Sage zu seinen großen Anschauungen etwa
nicht paßt, sorglos bei Seite, nicht darum, weil es ihm grade unverwendbar
ist, sondern weil es ihm nicht wahr ist. So regt sich seine Erfindung nach der
einen Seite weit unfreier als die unsere, und doch wieder gehoben durch eine
Deutlichkeit und plastische Lebendigkeit der Anschauungen, die uns geschwunden ist.

Wir aber schätzen den Werth solcher epischen Poesie unter anderm darnach,
ob die Bilder, welche der Dichter schaute, auch jeden Moment deutlich machen,
der für eine zusammenhängende Geschichtserzählung nothwendig ist. ob sie von
dem Dichter in fortleitender Bewegung durch die ganze Geschichte, welche er
vorführt, regsam geschaut werden, oder ob diese verklärten Bilder ihm nur in
einzelnen Stellen seiner Erzählung so deutlich werden, daß er genau zu schildern


gabung ist zugleich der Weltkundige und vielleicht der Seher seines Stammes,
er ist Sänger und musikalischer Künstler. In seinen Träumen erscheinen sogar
die bildenden Künste auf einer Stufe, welche er ahnt, bevor sie erreicht ist.
Er schildert die Halle des Königs so groß und reich geschmückt', wie sie zu
seiner Zeit in Wirklichkeit noch nicht ist, er bildet begeistert in Vers die
schöne Arbeit eines Halsschmucks, eines Trinkgefäßes, einer Waffenrüstung.
Was ihm irgendeinmal von den schwachen Kunstversuchen der Zeitgenossen ge¬
fiel, das wird von ihm zu kostbarem Prachtwerk ausgemalt. Aber während er
dichtet, ist er noch in anderer Weise ein Maler. Die ehrwürdigen Gestalten
der Götter- und Heldensage steigen vor seinem innern Sinn in einzelnen Situa¬
tionen gewaltig und reizvoll auf, er schaut sie, wie sie sich bewegen, einander
grüßend zuneigen, wie sie den Speer werfen, beim Fest in der Königshalle
sitzen, deutlich sieht er das Kleid, das sie umhüllt, die charakteristische Bewegung
des Hauptes und der Hände, er erblickt die luftige Gestalt der Göttin,
welche aus der Fluth steigt und dem Helden ihren rettenden Schleier zuwirft,
oder den Helden, welcher ihr den Schleier raubt, und die Göttin, welche wie ein
Vogel über der Fluth schwebt, weil sie das Schwanenhemd nicht missen will.
Alles Bedeutsame erkennt er deutlich bis in Einzelheiten. Und zuverlässig vermöchte
er selbst nicht immer zu unterscheiden, ob solches Bild nur innere Anschauung
war, oder ob es sich fühlbar vor seinen Augen in der Landschaft erhob. — Frei¬
lich, nicht ebenso detaillirt empfindet er das innere Leben seiner Gestalten, er
hält einen charakteristischen Grundzug an seinen Helden fest, der sich ausprägt
in ihrer äußeren Erscheinung und in jeder Rede, und behaglich variirt er in
vielen einzelnen Situationen dies gefundene Charakteristische. Er erfindet auch
nicht die Handlung wie ein moderner Dichter, denn auch der Verlauf der Er¬
eignisse ist ihm in der Hauptsache gegeben, die Kunde davon ist Habe seines
Volkes so gut wie seine eigene. Er begnügt sich, die Momente, welche ihn
poetisch anregen, stark hervorzuheben, er fühlt bei der Lebhaftigkeit seiner Bilder
ganz sicher, daß die Ereignisse so, wie er sie darstellt, sich zugetragen haben
müssen, und er wirft, was aus der Sage zu seinen großen Anschauungen etwa
nicht paßt, sorglos bei Seite, nicht darum, weil es ihm grade unverwendbar
ist, sondern weil es ihm nicht wahr ist. So regt sich seine Erfindung nach der
einen Seite weit unfreier als die unsere, und doch wieder gehoben durch eine
Deutlichkeit und plastische Lebendigkeit der Anschauungen, die uns geschwunden ist.

Wir aber schätzen den Werth solcher epischen Poesie unter anderm darnach,
ob die Bilder, welche der Dichter schaute, auch jeden Moment deutlich machen,
der für eine zusammenhängende Geschichtserzählung nothwendig ist. ob sie von
dem Dichter in fortleitender Bewegung durch die ganze Geschichte, welche er
vorführt, regsam geschaut werden, oder ob diese verklärten Bilder ihm nur in
einzelnen Stellen seiner Erzählung so deutlich werden, daß er genau zu schildern


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_284469/58>, abgerufen am 29.06.2024.