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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. I. Band.

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wenn ich ein Dichtungswerk gelesen, das mich ergriffen hat; versetz' ich mich
in eine Stimmung, wie sie Goethes Gedichte geben, so hab' ich ein gesättigt
Goldgelb, ins Goldbraune spielend; wie Schillers, so hab' ich ein strahlendes
Karmoisin; bei Shakespeare ist jede Scene eine Nuance der besondern Farbe,
die das ganze Stück mir hat. Wunderlicherweise ist jenes Bild oder jene
Gruppe gewöhnlich nicht das Bild der Katastrophe, manchmal nur eine charakter-
istische Figur in irgendeiner pathetischen Stellung; an diese schließt sich aber
sogleich eine ganze Reihe und vom Stücke erfahr' ich nicht die Fabel, den
novellistischen Inhalt zuerst, sondern bald nach vorwärts, bald nach dem Ende
zu von der erst gesehenen Situation aus schießen immer neue Plastisch-mimische
Gestalten und Gruppen an, bis ich das ganze Stück in allen seinen Scenen
habe; dies alles in großer Hast, wobei mein Bewußtsein ganz leidend sich
verhält und eine Art körperlicher Beängstigung mich in Händen hat. Den
Inhalt aller einzelnen Scenen kann ich mir denn auch in der Reihenfolge
willkürlich reproduciren; aber den novellistischen Inhalt in eine kurze Erzählung
zu bringen ist mir unmöglich. Nun findet sich zu den Geberden auch die Sprache.
Ich schreibe auf, was ich aufschreiben kann, aber wenn mich die Stimmung
verläßt, ist mir das Aufgeschriebene nur ein todter Buchstabe. Nun geb' ich
mich daran die Lücken des Dialogs auszufüllen. Dazu muß ich das Vorhandene
mit kritischem Auge ansehen. Ich suche die Idee, die der Generalnenner aller
dieser Einzelnheiten ist, oder wenn ich so sagen soll, ich suche die Idee, die,
mir unbewußt, die schaffende Kraft und der Zusammenhang der Erscheinungen
war; dann such' ich ebenso die Gelenke der Handlung, um den Causalnexus
mir zu verdeutlichen, ebenso die psychologischen Gesetze der einzelnen Züge,
den vollständigen Inhalt der Situationen, ich ordne das Verwirrte und mache
nun meinen Plan, in dem nichts mehr dem bloßen Jnstinct angehört, alles
Absicht und Berechnung ist, im Ganzen und bis in das einzelne Wort hinein.
Da sieht es denn ohngefähr aus wie ein hebbelsches Stück, alles ist abstract
ausgesprochen, jede Veränderung der Situation, jedes Stück Charakterent¬
wickelung gleichsam ein psychologisches Präparat, das Gespräch ist nicht mehr
wirkliches Gespräch, sondern eine Reihe von psychologischen charakteristischen
Zügen, pragmatischen und höheren Motiven. Ich könnte es nun so lassen
und vor dem Verstände würd' es so besser bestehn, als nachher. Auch an zeit¬
gemäßen Stellen fehlt es nicht, die dem Publikum gefallen könnten. Aber ich
kann mir nicht helfen, dergleichen ist mir kein poetisches Kunstwerk; auch die
hcbbelschen Stücke kommen mir immer nur vor wie der rohe Stoff zu einem
Kunstwerk, nicht wie ein solches selbst. Es ist noch kein Mensch geworden, es
ist ein Gerippe, etwas Fleisch darum, dem man aber die Zusammensetzung
und die Natur der halbverdauten Stoffe noch anmerkt; das Psychologische
drängt sich noch als Psychologisches auf, überall sieht man die Absicht.


wenn ich ein Dichtungswerk gelesen, das mich ergriffen hat; versetz' ich mich
in eine Stimmung, wie sie Goethes Gedichte geben, so hab' ich ein gesättigt
Goldgelb, ins Goldbraune spielend; wie Schillers, so hab' ich ein strahlendes
Karmoisin; bei Shakespeare ist jede Scene eine Nuance der besondern Farbe,
die das ganze Stück mir hat. Wunderlicherweise ist jenes Bild oder jene
Gruppe gewöhnlich nicht das Bild der Katastrophe, manchmal nur eine charakter-
istische Figur in irgendeiner pathetischen Stellung; an diese schließt sich aber
sogleich eine ganze Reihe und vom Stücke erfahr' ich nicht die Fabel, den
novellistischen Inhalt zuerst, sondern bald nach vorwärts, bald nach dem Ende
zu von der erst gesehenen Situation aus schießen immer neue Plastisch-mimische
Gestalten und Gruppen an, bis ich das ganze Stück in allen seinen Scenen
habe; dies alles in großer Hast, wobei mein Bewußtsein ganz leidend sich
verhält und eine Art körperlicher Beängstigung mich in Händen hat. Den
Inhalt aller einzelnen Scenen kann ich mir denn auch in der Reihenfolge
willkürlich reproduciren; aber den novellistischen Inhalt in eine kurze Erzählung
zu bringen ist mir unmöglich. Nun findet sich zu den Geberden auch die Sprache.
Ich schreibe auf, was ich aufschreiben kann, aber wenn mich die Stimmung
verläßt, ist mir das Aufgeschriebene nur ein todter Buchstabe. Nun geb' ich
mich daran die Lücken des Dialogs auszufüllen. Dazu muß ich das Vorhandene
mit kritischem Auge ansehen. Ich suche die Idee, die der Generalnenner aller
dieser Einzelnheiten ist, oder wenn ich so sagen soll, ich suche die Idee, die,
mir unbewußt, die schaffende Kraft und der Zusammenhang der Erscheinungen
war; dann such' ich ebenso die Gelenke der Handlung, um den Causalnexus
mir zu verdeutlichen, ebenso die psychologischen Gesetze der einzelnen Züge,
den vollständigen Inhalt der Situationen, ich ordne das Verwirrte und mache
nun meinen Plan, in dem nichts mehr dem bloßen Jnstinct angehört, alles
Absicht und Berechnung ist, im Ganzen und bis in das einzelne Wort hinein.
Da sieht es denn ohngefähr aus wie ein hebbelsches Stück, alles ist abstract
ausgesprochen, jede Veränderung der Situation, jedes Stück Charakterent¬
wickelung gleichsam ein psychologisches Präparat, das Gespräch ist nicht mehr
wirkliches Gespräch, sondern eine Reihe von psychologischen charakteristischen
Zügen, pragmatischen und höheren Motiven. Ich könnte es nun so lassen
und vor dem Verstände würd' es so besser bestehn, als nachher. Auch an zeit¬
gemäßen Stellen fehlt es nicht, die dem Publikum gefallen könnten. Aber ich
kann mir nicht helfen, dergleichen ist mir kein poetisches Kunstwerk; auch die
hcbbelschen Stücke kommen mir immer nur vor wie der rohe Stoff zu einem
Kunstwerk, nicht wie ein solches selbst. Es ist noch kein Mensch geworden, es
ist ein Gerippe, etwas Fleisch darum, dem man aber die Zusammensetzung
und die Natur der halbverdauten Stoffe noch anmerkt; das Psychologische
drängt sich noch als Psychologisches auf, überall sieht man die Absicht.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_284469/60>, abgerufen am 29.06.2024.