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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. I. Band.

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vorzubringen. Eigenheiten des Volkes, welche wir natürliche Anlage nennen^
seine socialen Zustände, Sitte, siecht, gesellschaftliche Verhältnisse, die Quellen
seiner Bildung sind dabei wirksam, aber sie allein erklären nicht, wie zur Zeit
des Phidias und Sophokles die größten Talente des Gricchenvolkes massenhaft
neben einander aufwuchsen, zur Zeit des Raphael die großen Maler, in der
Hohenstaufenzeit und wieder in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts
die großen Dichter der Deutschen, sie erklären auch nicht, woher es kommt, daß
z. B. die höchste Blüthe des Dramas den Culturvölkern fast plötzlich, wie eine
Offenbarung aufgeht, durch geniale Begabung eines oder mehrer Männer und
daß sie selten über ein Menschenleben in einer Nation weilt. Bei achtungs¬
voller Betrachtung dieses Geheimnißvollen wird allerdings deutlich, daß auch
hier kein Zufall waltet, und daß die einzelnen Künste unter sich selbst in inniger
Verbindung stehn, daß das Gedeihen der einen das Wachsthum der andern
fördert oder auch zurückhält, und daß dieselben günstigen Einwirkungen oft der einen
wie der andern zu gut kommen. Unmittelbar an Aeschylos schließt sich Phidias;
zwischen den Nibelungenliedern, der Blüthe gelehrter Mönchpoesie zur Zeit der
Frankenkaiser und dem romanischen Kirchenstil ist der innere Zusammenhang
unleugbar, ebenso zwischen der Minnepoesie des dreizehnten Jahrhunderts und
der Gothik in den aufstrebenden Städten. Das feste Band, weiches Dante
und Giotto, die Humanisten und Michel Angelo, die Renaissance und Shake¬
speare aneinandertnüpft. ist oft dargestellt worden. und daß unsere Landschafts¬
malerei mit der Entwickelung des poetischen Natursinnes im vorigen Jahrhun¬
dert zusammenhängt, ist niemandem zweifelhaft. Als wiederkehrende Erschei¬
nung drängt sich ferner auf. daß die Poesie hier als ältere Schwester die andern
Künste erzieht, denn das Ausblühn der Volkskraft zeigt sich zuerst in der Kunst,
welche den idealen Inhalt der Zeit am geistigsten und vollständigsten auszu¬
drücken vermag, an ihr Gedeihn schließt sich leicht das der andern Künste, auch
solcher, welche nicht, wie die Schauspielkunst und der mimische Tanz, unmittel¬
bar aus der Poesie sich entfalten.

Auch innerhalb derselben Kunst entwickeln sich die verschiedenen Richtungen
nach einander zur Blüthe., auch hierin ist gesetzlicher Verlauf. In der Poesie
zuerst das Epos, dann die Lyrik, spät, unter besonders günstigen Verhältnissen,
das Drama. Die erste Kunst, welche in jedem Culturvolk mächtig herausbricht,
ist die epische Poesie. Ihr reichstes Gedeihn, ihre höchste Bedeutung erhält sie
grade zu der Zeit, in welcher die übrigen Künste noch unentwickelt in der
Seele des Volkes liegen. Sie ist in der Jugend der Völker noch keine Kunst¬
gattung, sie ist der einzige, nothwendig gegebene Weg, aus welchem sich die
schöpferische Kraft äußert. Und sehr merkwürdig ist, daß in einem reichbegabten
Volke während solcher Zeit auch die übrigen Künste wie unfertige Seelchen durch
das Epos nach dem Leben ringen. Der Mann von großer dichterischer Be-


Grenzboten I. 18W. 7

vorzubringen. Eigenheiten des Volkes, welche wir natürliche Anlage nennen^
seine socialen Zustände, Sitte, siecht, gesellschaftliche Verhältnisse, die Quellen
seiner Bildung sind dabei wirksam, aber sie allein erklären nicht, wie zur Zeit
des Phidias und Sophokles die größten Talente des Gricchenvolkes massenhaft
neben einander aufwuchsen, zur Zeit des Raphael die großen Maler, in der
Hohenstaufenzeit und wieder in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts
die großen Dichter der Deutschen, sie erklären auch nicht, woher es kommt, daß
z. B. die höchste Blüthe des Dramas den Culturvölkern fast plötzlich, wie eine
Offenbarung aufgeht, durch geniale Begabung eines oder mehrer Männer und
daß sie selten über ein Menschenleben in einer Nation weilt. Bei achtungs¬
voller Betrachtung dieses Geheimnißvollen wird allerdings deutlich, daß auch
hier kein Zufall waltet, und daß die einzelnen Künste unter sich selbst in inniger
Verbindung stehn, daß das Gedeihen der einen das Wachsthum der andern
fördert oder auch zurückhält, und daß dieselben günstigen Einwirkungen oft der einen
wie der andern zu gut kommen. Unmittelbar an Aeschylos schließt sich Phidias;
zwischen den Nibelungenliedern, der Blüthe gelehrter Mönchpoesie zur Zeit der
Frankenkaiser und dem romanischen Kirchenstil ist der innere Zusammenhang
unleugbar, ebenso zwischen der Minnepoesie des dreizehnten Jahrhunderts und
der Gothik in den aufstrebenden Städten. Das feste Band, weiches Dante
und Giotto, die Humanisten und Michel Angelo, die Renaissance und Shake¬
speare aneinandertnüpft. ist oft dargestellt worden. und daß unsere Landschafts¬
malerei mit der Entwickelung des poetischen Natursinnes im vorigen Jahrhun¬
dert zusammenhängt, ist niemandem zweifelhaft. Als wiederkehrende Erschei¬
nung drängt sich ferner auf. daß die Poesie hier als ältere Schwester die andern
Künste erzieht, denn das Ausblühn der Volkskraft zeigt sich zuerst in der Kunst,
welche den idealen Inhalt der Zeit am geistigsten und vollständigsten auszu¬
drücken vermag, an ihr Gedeihn schließt sich leicht das der andern Künste, auch
solcher, welche nicht, wie die Schauspielkunst und der mimische Tanz, unmittel¬
bar aus der Poesie sich entfalten.

Auch innerhalb derselben Kunst entwickeln sich die verschiedenen Richtungen
nach einander zur Blüthe., auch hierin ist gesetzlicher Verlauf. In der Poesie
zuerst das Epos, dann die Lyrik, spät, unter besonders günstigen Verhältnissen,
das Drama. Die erste Kunst, welche in jedem Culturvolk mächtig herausbricht,
ist die epische Poesie. Ihr reichstes Gedeihn, ihre höchste Bedeutung erhält sie
grade zu der Zeit, in welcher die übrigen Künste noch unentwickelt in der
Seele des Volkes liegen. Sie ist in der Jugend der Völker noch keine Kunst¬
gattung, sie ist der einzige, nothwendig gegebene Weg, aus welchem sich die
schöpferische Kraft äußert. Und sehr merkwürdig ist, daß in einem reichbegabten
Volke während solcher Zeit auch die übrigen Künste wie unfertige Seelchen durch
das Epos nach dem Leben ringen. Der Mann von großer dichterischer Be-


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[0057] vorzubringen. Eigenheiten des Volkes, welche wir natürliche Anlage nennen^ seine socialen Zustände, Sitte, siecht, gesellschaftliche Verhältnisse, die Quellen seiner Bildung sind dabei wirksam, aber sie allein erklären nicht, wie zur Zeit des Phidias und Sophokles die größten Talente des Gricchenvolkes massenhaft neben einander aufwuchsen, zur Zeit des Raphael die großen Maler, in der Hohenstaufenzeit und wieder in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts die großen Dichter der Deutschen, sie erklären auch nicht, woher es kommt, daß z. B. die höchste Blüthe des Dramas den Culturvölkern fast plötzlich, wie eine Offenbarung aufgeht, durch geniale Begabung eines oder mehrer Männer und daß sie selten über ein Menschenleben in einer Nation weilt. Bei achtungs¬ voller Betrachtung dieses Geheimnißvollen wird allerdings deutlich, daß auch hier kein Zufall waltet, und daß die einzelnen Künste unter sich selbst in inniger Verbindung stehn, daß das Gedeihen der einen das Wachsthum der andern fördert oder auch zurückhält, und daß dieselben günstigen Einwirkungen oft der einen wie der andern zu gut kommen. Unmittelbar an Aeschylos schließt sich Phidias; zwischen den Nibelungenliedern, der Blüthe gelehrter Mönchpoesie zur Zeit der Frankenkaiser und dem romanischen Kirchenstil ist der innere Zusammenhang unleugbar, ebenso zwischen der Minnepoesie des dreizehnten Jahrhunderts und der Gothik in den aufstrebenden Städten. Das feste Band, weiches Dante und Giotto, die Humanisten und Michel Angelo, die Renaissance und Shake¬ speare aneinandertnüpft. ist oft dargestellt worden. und daß unsere Landschafts¬ malerei mit der Entwickelung des poetischen Natursinnes im vorigen Jahrhun¬ dert zusammenhängt, ist niemandem zweifelhaft. Als wiederkehrende Erschei¬ nung drängt sich ferner auf. daß die Poesie hier als ältere Schwester die andern Künste erzieht, denn das Ausblühn der Volkskraft zeigt sich zuerst in der Kunst, welche den idealen Inhalt der Zeit am geistigsten und vollständigsten auszu¬ drücken vermag, an ihr Gedeihn schließt sich leicht das der andern Künste, auch solcher, welche nicht, wie die Schauspielkunst und der mimische Tanz, unmittel¬ bar aus der Poesie sich entfalten. Auch innerhalb derselben Kunst entwickeln sich die verschiedenen Richtungen nach einander zur Blüthe., auch hierin ist gesetzlicher Verlauf. In der Poesie zuerst das Epos, dann die Lyrik, spät, unter besonders günstigen Verhältnissen, das Drama. Die erste Kunst, welche in jedem Culturvolk mächtig herausbricht, ist die epische Poesie. Ihr reichstes Gedeihn, ihre höchste Bedeutung erhält sie grade zu der Zeit, in welcher die übrigen Künste noch unentwickelt in der Seele des Volkes liegen. Sie ist in der Jugend der Völker noch keine Kunst¬ gattung, sie ist der einzige, nothwendig gegebene Weg, aus welchem sich die schöpferische Kraft äußert. Und sehr merkwürdig ist, daß in einem reichbegabten Volke während solcher Zeit auch die übrigen Künste wie unfertige Seelchen durch das Epos nach dem Leben ringen. Der Mann von großer dichterischer Be- Grenzboten I. 18W. 7

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_284469/57>, abgerufen am 28.09.2024.