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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. I. Band.

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und auch viele Einzelheiten des innern Processes sind allen Künstlern derselben
Kunst gemeinsam. Daneben aber zeigen sich sogleich die größten Verschieden¬
heiten. Zunächst freilich an den Individuen, welche in derselben Kunst zu gleicher
Zeit thätig sind.

Aber das künstlerische Schaffen ist in derselben Kunst auch nicht zu
allen Zeiten ganz dasselbe. Auch hier finden Umwandlungen statt, deren Ur¬
sache wir zu ergründen, deren Gesetze wir darzustellen vermögen. Und man
darf sagen. daß das künstlerische Schaffen in jedem Jahrhundert eines Volks-
lebens einige besondere Eigenschaften haben muß, wenn es dem idealen Be¬
dürfniß der Zeit völlig entsprechenden Ausdruck geben soll. Der Maler zur
Zeit Giottos bewies sein Talent unter dem Einfluß einer Technik und Bildung,
welche ihm Idee. Linienführung, Figuren und Färbung seiner Tafeln in gach
anderer Weise feststellten, als dem modernen Maler unsere Malerkunst. Er war we¬
sentlich Handwerker, er rieb sich die Farben, er kochte den Firniß, er malte
Gewand. Falten und Gesichter mit Farben, welche ihm je nach dem Charakter
seiner Figuren vorgeschrieben waren, er schattirte durch ein Aufsetzen der Schatten¬
töne, welches traditionell war, und durch Handgriffe, die er zünftig gelernt hatte.
Er hatte für die Bildung der Gruppe und die Führung der Linien einige über¬
kommene technische Grundsätze, die ihm feststanden. Auch über die Gegen¬
sätze, welche er malte, war er durchaus nicht unsicher. Die Kirche und Privat¬
leute wußten genau, was sie zu fordern hatten, ihre Heiligen in der Situation
des Martyriums, den Erlöser, die Jungfrau Maria in bestimmten Stellungen,
welche hundertmal gemalt waren, in denen manches unabänderlich war. Der
Maler bethätigte seine eigene Kraft durch die Aenderungen, die er in dem
Typus des Heiligen, in Anordnung der Gruppe, vielleicht in Anwendung der
Farben und ihres Bindemittels einführte. Wer auf solcher Grundlage ein großer
Maler werden konnte, war ein reicher Mann in vielem, was unsre Maler
unsicher suchen, und ein ungeübtes Kind in anderem, worin die Modernen wie
freie Herren gebieten. -- Wer ferner um das Jahr 1200 als ritterlicher Sänger
in Deutschland Geltung suchte, der lernte aus keiner Metrik Maß und Quan¬
tität, er suchte nicht nach poetischen Stimmungen bei entfernten Völkern, er war
nicht verpflichtet neu zu sein, weder im Versmaß noch in der Grundidee seines
Gedichtes, aber er trug als Kind seines Volkes in sich ein seines und graziöses
Gefühl für den Wohlklang seiner Verse, ohne lange zu schwanken vermochte er
Hebungen und Senkungen recht zu gebrauchen mit einem Accentgefühl, das
wir nicht besitzen und uns mühsam als ein höchst schwieriges und complicirtes
System von Regeln aus alten Gedichten construiren; er sang, was hundertmal
gesungen war, wie der Mai kam nach dem kalten Winter und wie in der
blühenden Natur die Geliebte ihm erschien, oder wie er zur Nacht bei ihr weilte
und der Wächter aus der Zinne den Morgen verkündete, oder wie er des langen,


und auch viele Einzelheiten des innern Processes sind allen Künstlern derselben
Kunst gemeinsam. Daneben aber zeigen sich sogleich die größten Verschieden¬
heiten. Zunächst freilich an den Individuen, welche in derselben Kunst zu gleicher
Zeit thätig sind.

Aber das künstlerische Schaffen ist in derselben Kunst auch nicht zu
allen Zeiten ganz dasselbe. Auch hier finden Umwandlungen statt, deren Ur¬
sache wir zu ergründen, deren Gesetze wir darzustellen vermögen. Und man
darf sagen. daß das künstlerische Schaffen in jedem Jahrhundert eines Volks-
lebens einige besondere Eigenschaften haben muß, wenn es dem idealen Be¬
dürfniß der Zeit völlig entsprechenden Ausdruck geben soll. Der Maler zur
Zeit Giottos bewies sein Talent unter dem Einfluß einer Technik und Bildung,
welche ihm Idee. Linienführung, Figuren und Färbung seiner Tafeln in gach
anderer Weise feststellten, als dem modernen Maler unsere Malerkunst. Er war we¬
sentlich Handwerker, er rieb sich die Farben, er kochte den Firniß, er malte
Gewand. Falten und Gesichter mit Farben, welche ihm je nach dem Charakter
seiner Figuren vorgeschrieben waren, er schattirte durch ein Aufsetzen der Schatten¬
töne, welches traditionell war, und durch Handgriffe, die er zünftig gelernt hatte.
Er hatte für die Bildung der Gruppe und die Führung der Linien einige über¬
kommene technische Grundsätze, die ihm feststanden. Auch über die Gegen¬
sätze, welche er malte, war er durchaus nicht unsicher. Die Kirche und Privat¬
leute wußten genau, was sie zu fordern hatten, ihre Heiligen in der Situation
des Martyriums, den Erlöser, die Jungfrau Maria in bestimmten Stellungen,
welche hundertmal gemalt waren, in denen manches unabänderlich war. Der
Maler bethätigte seine eigene Kraft durch die Aenderungen, die er in dem
Typus des Heiligen, in Anordnung der Gruppe, vielleicht in Anwendung der
Farben und ihres Bindemittels einführte. Wer auf solcher Grundlage ein großer
Maler werden konnte, war ein reicher Mann in vielem, was unsre Maler
unsicher suchen, und ein ungeübtes Kind in anderem, worin die Modernen wie
freie Herren gebieten. — Wer ferner um das Jahr 1200 als ritterlicher Sänger
in Deutschland Geltung suchte, der lernte aus keiner Metrik Maß und Quan¬
tität, er suchte nicht nach poetischen Stimmungen bei entfernten Völkern, er war
nicht verpflichtet neu zu sein, weder im Versmaß noch in der Grundidee seines
Gedichtes, aber er trug als Kind seines Volkes in sich ein seines und graziöses
Gefühl für den Wohlklang seiner Verse, ohne lange zu schwanken vermochte er
Hebungen und Senkungen recht zu gebrauchen mit einem Accentgefühl, das
wir nicht besitzen und uns mühsam als ein höchst schwieriges und complicirtes
System von Regeln aus alten Gedichten construiren; er sang, was hundertmal
gesungen war, wie der Mai kam nach dem kalten Winter und wie in der
blühenden Natur die Geliebte ihm erschien, oder wie er zur Nacht bei ihr weilte
und der Wächter aus der Zinne den Morgen verkündete, oder wie er des langen,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_284469/55>, abgerufen am 22.12.2024.