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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. I. Band.

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letzten Wochen auf seinem Sterbelager beschäftigte ihn ein Trauerspiel Tiberius
Gracchus.

Was das Publikum durch ihn, erhalten, ist verhältnißmäßig sehr wenig von
dem, was er in leidenschaftlicher Bewegung in sich verarbeitete. Wem ein
Blick in diese reiche Trümmerwelt verstattet war, der wird mit tiefer Hoch¬
achtung vor der großartigen Anlage des Geschiedenen erfüllt werden. Aber
auch mit Erstaunen über die eigenthümliche Weise, in welcher er arbeitete;
denn was ihn gehindert hat. das war im letzten Grunde nicht seine Krankheit,
sondern eine Besonderheit seiner Anlage. Es sei der Versuch gestattet, dies
hier deutlich zu machen.

Unsere Literaturgeschichten bescheiden sich in der Regel gegenüber den ein¬
zelnen Dichtern, die Werke derselben nach den ästhetischen Gesichtspunkten des
Verfassers zu beurtheilen, ihre Bedeutung für die Zeitgenossen und die folgen-"
den Geschlechter darzustellen, das äußere Leben und den litterarischen Charakter
des Dichters zu schildern; ferner freilich wissen sie auch aus dem Zusammenwirken
der einzelnen Richtungen die wesentlichen Eigenschaften einer Literaturperiode
und die Entwickelung der freischaffenden Volkskraft zu ermitteln. Es ist aber
noch eine andere Betrachtung poetischer Productionen möglich, welche in die
Arbeitsstube des Dichters tritt und seine besondere Methode zu schaffen darlegt.
Wird uns möglich, von diesem Gesichtspunkt in die geheimen Tiefen einer Dich¬
terseele einzudringen, so erhält nicht nur was sie geschaffen einen höhern Reiz,
obenan steht dann auch eine achtungsvolle Würdigung des Wirkens der schöpfe¬
rischen Kraft überhaupt. Das Gelungene wie das Unvollkommene in den
Werken wird alsdann erkannt, nicht nur als Mangel der Anlagen, als Fehler
der Arbeit, vielleicht auch als eine Eigenthümlichkeit des Dichters, wel¬
cher nach dem ganzen Zuge seiner schöpferischen Kraft so zu schaffen genöthigt
war. Und wenn es gelänge, von einer Anzahl kräftiger Talente aus verschie¬
denen Zeiten ein solches Bild ihrer schöpferischen Arbeit zu geben, so würde
noch etwas Anderes, Geheimnißvolles klar werden, die Unterschiede der poeti¬
schen Schöpferkraft bei den einzelnen Culturvölkern und die Wandlungen, welche
die Methode des künstlerischen Schaffens im Laufe der Jahrhunderte bei dem¬
selben Volke erfährt.

Leicht ist es, gewisse gemeingiltige Processe darzustellen, wie sie sich in jeder
Dichterseele vollziehen. Aus den Eindrücken, Bildern und Anschauungen, welche
das Leben, Beobachtung oder Lectüre, in die Seele sendet, regen einzelne kräftig
das Gemüth an. Eine Empfindung wird lebhaft nachgefühlt, eine Anekdote
aus dem Leben eines Menschen wird mit Freuden als bedeutsaln erkannt.
Ist bei solcher Empfindung ruhiger Genuß, nicht gewaltsame Verletzung des
Aufnehmenden, und nicht die Anreizung zu einer sofortigen Willensäußerung,


letzten Wochen auf seinem Sterbelager beschäftigte ihn ein Trauerspiel Tiberius
Gracchus.

Was das Publikum durch ihn, erhalten, ist verhältnißmäßig sehr wenig von
dem, was er in leidenschaftlicher Bewegung in sich verarbeitete. Wem ein
Blick in diese reiche Trümmerwelt verstattet war, der wird mit tiefer Hoch¬
achtung vor der großartigen Anlage des Geschiedenen erfüllt werden. Aber
auch mit Erstaunen über die eigenthümliche Weise, in welcher er arbeitete;
denn was ihn gehindert hat. das war im letzten Grunde nicht seine Krankheit,
sondern eine Besonderheit seiner Anlage. Es sei der Versuch gestattet, dies
hier deutlich zu machen.

Unsere Literaturgeschichten bescheiden sich in der Regel gegenüber den ein¬
zelnen Dichtern, die Werke derselben nach den ästhetischen Gesichtspunkten des
Verfassers zu beurtheilen, ihre Bedeutung für die Zeitgenossen und die folgen-»
den Geschlechter darzustellen, das äußere Leben und den litterarischen Charakter
des Dichters zu schildern; ferner freilich wissen sie auch aus dem Zusammenwirken
der einzelnen Richtungen die wesentlichen Eigenschaften einer Literaturperiode
und die Entwickelung der freischaffenden Volkskraft zu ermitteln. Es ist aber
noch eine andere Betrachtung poetischer Productionen möglich, welche in die
Arbeitsstube des Dichters tritt und seine besondere Methode zu schaffen darlegt.
Wird uns möglich, von diesem Gesichtspunkt in die geheimen Tiefen einer Dich¬
terseele einzudringen, so erhält nicht nur was sie geschaffen einen höhern Reiz,
obenan steht dann auch eine achtungsvolle Würdigung des Wirkens der schöpfe¬
rischen Kraft überhaupt. Das Gelungene wie das Unvollkommene in den
Werken wird alsdann erkannt, nicht nur als Mangel der Anlagen, als Fehler
der Arbeit, vielleicht auch als eine Eigenthümlichkeit des Dichters, wel¬
cher nach dem ganzen Zuge seiner schöpferischen Kraft so zu schaffen genöthigt
war. Und wenn es gelänge, von einer Anzahl kräftiger Talente aus verschie¬
denen Zeiten ein solches Bild ihrer schöpferischen Arbeit zu geben, so würde
noch etwas Anderes, Geheimnißvolles klar werden, die Unterschiede der poeti¬
schen Schöpferkraft bei den einzelnen Culturvölkern und die Wandlungen, welche
die Methode des künstlerischen Schaffens im Laufe der Jahrhunderte bei dem¬
selben Volke erfährt.

Leicht ist es, gewisse gemeingiltige Processe darzustellen, wie sie sich in jeder
Dichterseele vollziehen. Aus den Eindrücken, Bildern und Anschauungen, welche
das Leben, Beobachtung oder Lectüre, in die Seele sendet, regen einzelne kräftig
das Gemüth an. Eine Empfindung wird lebhaft nachgefühlt, eine Anekdote
aus dem Leben eines Menschen wird mit Freuden als bedeutsaln erkannt.
Ist bei solcher Empfindung ruhiger Genuß, nicht gewaltsame Verletzung des
Aufnehmenden, und nicht die Anreizung zu einer sofortigen Willensäußerung,


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[0052] letzten Wochen auf seinem Sterbelager beschäftigte ihn ein Trauerspiel Tiberius Gracchus. Was das Publikum durch ihn, erhalten, ist verhältnißmäßig sehr wenig von dem, was er in leidenschaftlicher Bewegung in sich verarbeitete. Wem ein Blick in diese reiche Trümmerwelt verstattet war, der wird mit tiefer Hoch¬ achtung vor der großartigen Anlage des Geschiedenen erfüllt werden. Aber auch mit Erstaunen über die eigenthümliche Weise, in welcher er arbeitete; denn was ihn gehindert hat. das war im letzten Grunde nicht seine Krankheit, sondern eine Besonderheit seiner Anlage. Es sei der Versuch gestattet, dies hier deutlich zu machen. Unsere Literaturgeschichten bescheiden sich in der Regel gegenüber den ein¬ zelnen Dichtern, die Werke derselben nach den ästhetischen Gesichtspunkten des Verfassers zu beurtheilen, ihre Bedeutung für die Zeitgenossen und die folgen-» den Geschlechter darzustellen, das äußere Leben und den litterarischen Charakter des Dichters zu schildern; ferner freilich wissen sie auch aus dem Zusammenwirken der einzelnen Richtungen die wesentlichen Eigenschaften einer Literaturperiode und die Entwickelung der freischaffenden Volkskraft zu ermitteln. Es ist aber noch eine andere Betrachtung poetischer Productionen möglich, welche in die Arbeitsstube des Dichters tritt und seine besondere Methode zu schaffen darlegt. Wird uns möglich, von diesem Gesichtspunkt in die geheimen Tiefen einer Dich¬ terseele einzudringen, so erhält nicht nur was sie geschaffen einen höhern Reiz, obenan steht dann auch eine achtungsvolle Würdigung des Wirkens der schöpfe¬ rischen Kraft überhaupt. Das Gelungene wie das Unvollkommene in den Werken wird alsdann erkannt, nicht nur als Mangel der Anlagen, als Fehler der Arbeit, vielleicht auch als eine Eigenthümlichkeit des Dichters, wel¬ cher nach dem ganzen Zuge seiner schöpferischen Kraft so zu schaffen genöthigt war. Und wenn es gelänge, von einer Anzahl kräftiger Talente aus verschie¬ denen Zeiten ein solches Bild ihrer schöpferischen Arbeit zu geben, so würde noch etwas Anderes, Geheimnißvolles klar werden, die Unterschiede der poeti¬ schen Schöpferkraft bei den einzelnen Culturvölkern und die Wandlungen, welche die Methode des künstlerischen Schaffens im Laufe der Jahrhunderte bei dem¬ selben Volke erfährt. Leicht ist es, gewisse gemeingiltige Processe darzustellen, wie sie sich in jeder Dichterseele vollziehen. Aus den Eindrücken, Bildern und Anschauungen, welche das Leben, Beobachtung oder Lectüre, in die Seele sendet, regen einzelne kräftig das Gemüth an. Eine Empfindung wird lebhaft nachgefühlt, eine Anekdote aus dem Leben eines Menschen wird mit Freuden als bedeutsaln erkannt. Ist bei solcher Empfindung ruhiger Genuß, nicht gewaltsame Verletzung des Aufnehmenden, und nicht die Anreizung zu einer sofortigen Willensäußerung,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_284469/52>, abgerufen am 28.09.2024.