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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. I. Band.

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welcher sie im sechsten Jahrhundert überliefert worden waren. Die Sprache
war reicher, die Kenntniß, die sie vermittelte, kaum völliger geworden. Die
Mathematik hatte von den Araber" neue Ziffern und die Algebra erhalten,
Im Bereich der Jurisprudenz war das canonische Recht entstanden. Das Civil¬
recht, soweit es die Universitäten anging, war gleichfalls Tradition. Von dem
deutschen Recht war in den Hörsälen noch lange nicht die Rebe. Wie tue
Schule sich nicht um die Poesie des Volkes kümmerte, die sie für Barbarei
oder doch für ihrer Berücksichtigung nicht würdig Kiele, so wußte sie auch nichts
von den Rechtsgewohnheiten desselben. Wie die Philosophen die Werke des
Aristoteles sür die Summe aller Weisheit, die Theologen die Dogmen der Kirche
für den Abschluß ihrer Wissenschaft ansahen, so war den Juristen der Hoch¬
schulen der Inhalt des Corpus Juris, der Pandecten und der "apostolischen"
Canones das Recht an sich und die einzige und für alle Zeiten giltige Gesta-le
des Rechts, die man nur verstehen lernen, nur commentiren und memoriren.
aber nicht ändern oder materiell erweitern konnte. Ueber alles und in allem
endlich herrschte die Rücksicht auf die Kirche, die höchste Macht in allen geistigen
Dingen, die nichts duldete, was gegen ihren Dogmenvorrath verstieß, wie auf¬
geklärt in der letzen Periode des Mittelalters auch manche Päpste und andere
Mitglieder des höheren Klerus waren.

Mancherlei Dinge regten sich in den Völkern, Boten des Frühlings. Auf¬
blitzen einer nie ganz untergegangenen Sonne jenseits des Horizonts der Zeit, still-
glimmende und für kurze Momente hochaufflammende Ketzerei. Die Universitäten
hatten daran nur in seltnen Fällen Theil und niemals als Gesammtheiten.
Das fünfzehnte Jahrhundert kam heran, ohne daß durch die kleinen
runden, mit Blei eingefaßten Fensterscheiben der Studierstuben, Hörsäle und
Bursen derselben ein anderes Licht als das altgewohnte trübe, gebrochne und
gedämpfte geschienen hätte.

Die Scholastik ist alt geworden und mit dem Alter nicht besser, sondern
nur dürrer und schwächer. Die Artistenzunft der Gelehrtenrepublik treibt und
lehrt die hergebrachten sieben freien Künste des Boethius. die trivialen: Gram¬
matik, Rhetorik und Dialektik, und die quadrivialen: Arithmetik, Musik, Geo¬
metrie und Astronomie in herkömmlicher Weise, wobei den Anfängern in der
Dialektik die sieben Tractate des Petrus Hispanus als Leitfaden dienen. Reifere
sich an Aristoteles halten. Die drei vornehmeren Innungen thun mit viel
Pomp und Gravität mit ihrem Erbe desgleichen. Die Theologen studiren die
Sentenzen des Petrus Lombardus. die Summa des heiligen Thomas sowie
andere berühmte Compendien der Hauptmeisicr der Scholastik und disputiien
darüber, wobei die Sitte der Zeit grobe Ausfälle auf den Gegner gestattet und
gelegentlich einige neue Distinctionen zum Vorschein kommen, durch welche


welcher sie im sechsten Jahrhundert überliefert worden waren. Die Sprache
war reicher, die Kenntniß, die sie vermittelte, kaum völliger geworden. Die
Mathematik hatte von den Araber» neue Ziffern und die Algebra erhalten,
Im Bereich der Jurisprudenz war das canonische Recht entstanden. Das Civil¬
recht, soweit es die Universitäten anging, war gleichfalls Tradition. Von dem
deutschen Recht war in den Hörsälen noch lange nicht die Rebe. Wie tue
Schule sich nicht um die Poesie des Volkes kümmerte, die sie für Barbarei
oder doch für ihrer Berücksichtigung nicht würdig Kiele, so wußte sie auch nichts
von den Rechtsgewohnheiten desselben. Wie die Philosophen die Werke des
Aristoteles sür die Summe aller Weisheit, die Theologen die Dogmen der Kirche
für den Abschluß ihrer Wissenschaft ansahen, so war den Juristen der Hoch¬
schulen der Inhalt des Corpus Juris, der Pandecten und der „apostolischen"
Canones das Recht an sich und die einzige und für alle Zeiten giltige Gesta-le
des Rechts, die man nur verstehen lernen, nur commentiren und memoriren.
aber nicht ändern oder materiell erweitern konnte. Ueber alles und in allem
endlich herrschte die Rücksicht auf die Kirche, die höchste Macht in allen geistigen
Dingen, die nichts duldete, was gegen ihren Dogmenvorrath verstieß, wie auf¬
geklärt in der letzen Periode des Mittelalters auch manche Päpste und andere
Mitglieder des höheren Klerus waren.

Mancherlei Dinge regten sich in den Völkern, Boten des Frühlings. Auf¬
blitzen einer nie ganz untergegangenen Sonne jenseits des Horizonts der Zeit, still-
glimmende und für kurze Momente hochaufflammende Ketzerei. Die Universitäten
hatten daran nur in seltnen Fällen Theil und niemals als Gesammtheiten.
Das fünfzehnte Jahrhundert kam heran, ohne daß durch die kleinen
runden, mit Blei eingefaßten Fensterscheiben der Studierstuben, Hörsäle und
Bursen derselben ein anderes Licht als das altgewohnte trübe, gebrochne und
gedämpfte geschienen hätte.

Die Scholastik ist alt geworden und mit dem Alter nicht besser, sondern
nur dürrer und schwächer. Die Artistenzunft der Gelehrtenrepublik treibt und
lehrt die hergebrachten sieben freien Künste des Boethius. die trivialen: Gram¬
matik, Rhetorik und Dialektik, und die quadrivialen: Arithmetik, Musik, Geo¬
metrie und Astronomie in herkömmlicher Weise, wobei den Anfängern in der
Dialektik die sieben Tractate des Petrus Hispanus als Leitfaden dienen. Reifere
sich an Aristoteles halten. Die drei vornehmeren Innungen thun mit viel
Pomp und Gravität mit ihrem Erbe desgleichen. Die Theologen studiren die
Sentenzen des Petrus Lombardus. die Summa des heiligen Thomas sowie
andere berühmte Compendien der Hauptmeisicr der Scholastik und disputiien
darüber, wobei die Sitte der Zeit grobe Ausfälle auf den Gegner gestattet und
gelegentlich einige neue Distinctionen zum Vorschein kommen, durch welche


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[0489] welcher sie im sechsten Jahrhundert überliefert worden waren. Die Sprache war reicher, die Kenntniß, die sie vermittelte, kaum völliger geworden. Die Mathematik hatte von den Araber» neue Ziffern und die Algebra erhalten, Im Bereich der Jurisprudenz war das canonische Recht entstanden. Das Civil¬ recht, soweit es die Universitäten anging, war gleichfalls Tradition. Von dem deutschen Recht war in den Hörsälen noch lange nicht die Rebe. Wie tue Schule sich nicht um die Poesie des Volkes kümmerte, die sie für Barbarei oder doch für ihrer Berücksichtigung nicht würdig Kiele, so wußte sie auch nichts von den Rechtsgewohnheiten desselben. Wie die Philosophen die Werke des Aristoteles sür die Summe aller Weisheit, die Theologen die Dogmen der Kirche für den Abschluß ihrer Wissenschaft ansahen, so war den Juristen der Hoch¬ schulen der Inhalt des Corpus Juris, der Pandecten und der „apostolischen" Canones das Recht an sich und die einzige und für alle Zeiten giltige Gesta-le des Rechts, die man nur verstehen lernen, nur commentiren und memoriren. aber nicht ändern oder materiell erweitern konnte. Ueber alles und in allem endlich herrschte die Rücksicht auf die Kirche, die höchste Macht in allen geistigen Dingen, die nichts duldete, was gegen ihren Dogmenvorrath verstieß, wie auf¬ geklärt in der letzen Periode des Mittelalters auch manche Päpste und andere Mitglieder des höheren Klerus waren. Mancherlei Dinge regten sich in den Völkern, Boten des Frühlings. Auf¬ blitzen einer nie ganz untergegangenen Sonne jenseits des Horizonts der Zeit, still- glimmende und für kurze Momente hochaufflammende Ketzerei. Die Universitäten hatten daran nur in seltnen Fällen Theil und niemals als Gesammtheiten. Das fünfzehnte Jahrhundert kam heran, ohne daß durch die kleinen runden, mit Blei eingefaßten Fensterscheiben der Studierstuben, Hörsäle und Bursen derselben ein anderes Licht als das altgewohnte trübe, gebrochne und gedämpfte geschienen hätte. Die Scholastik ist alt geworden und mit dem Alter nicht besser, sondern nur dürrer und schwächer. Die Artistenzunft der Gelehrtenrepublik treibt und lehrt die hergebrachten sieben freien Künste des Boethius. die trivialen: Gram¬ matik, Rhetorik und Dialektik, und die quadrivialen: Arithmetik, Musik, Geo¬ metrie und Astronomie in herkömmlicher Weise, wobei den Anfängern in der Dialektik die sieben Tractate des Petrus Hispanus als Leitfaden dienen. Reifere sich an Aristoteles halten. Die drei vornehmeren Innungen thun mit viel Pomp und Gravität mit ihrem Erbe desgleichen. Die Theologen studiren die Sentenzen des Petrus Lombardus. die Summa des heiligen Thomas sowie andere berühmte Compendien der Hauptmeisicr der Scholastik und disputiien darüber, wobei die Sitte der Zeit grobe Ausfälle auf den Gegner gestattet und gelegentlich einige neue Distinctionen zum Vorschein kommen, durch welche

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_284469/489>, abgerufen am 29.06.2024.