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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. I. Band.

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Und wie mit der Philosophie und Theologie, so verhielt sichs auch mit
allen andern Disciplinen. Die Größen der mittelalterlichen Schulen und Uni¬
versitäten waren seraphische, angelische, vor allem aber subtile Doctoren. niemals
oder selten unmittelbar schöpferische Geister. Ueberall schwor man in letzter Instanz
mehr oder minder auf Autoritäten, fast nirgends kam man über die Schranke
der Tradition hinaus. Was Albertus Magnus, der sinnigste, gedankenreichste
und gelehrteste aller Scholastiker, in seinen naturhistorischen Werken vorträgt,
ist nur zum kleinsten Theil, z. B. in den letzten.sechs Büchern deoSchrift über
die Thiere und in einigen seiner Capitel über die Pflanzen. Ergebniß eigner
Beobachtung, alles andere lediglich Auszug oder Bearbeitung des Aristoteles.

Roger Bacon. wie Goethes Faust Philosoph, Jurist. Mediciner und
Theolog und überdies noch Mathematiker und Physiker, ist. Mitte 'des drei¬
zehnten Jahrhunderts, der Erste, welcher die bisherige Methode für falsch er¬
klärt. Wegwerfend, wie alle zuerst gegen Verlebtes Protestirende, äußert er
sich über das Gewicht, welches die Schule auf Logik und Grammatik legt.
Diese Wissenschaften seien jedem angeboren, und statt Grammatik als solche zu
treiben, solle man sich lieber mit der Grammatik andrer Sprachen beschäftigen,
d. h.- lieber Hebräisch, Griechisch und Arabisch lernen, um die Bibel und Aristo¬
teles (an andere Griechen konnte er noch nicht denken), Avicenna und Averroes
statt, wie bisher, nur in Uebersetzungen voll Mißverständnisse und Lücken in
der Ursprache lesen zu können. Und in ähnlicher Weise strebt der vootor
miradiÜZ auch in andern Richtungen, namentlich als Physiker, über den engen
Kreis des damaligen Wissens hinaus, um aus dem Urborn der Erfahrung zu
schöpfen und mit dem Gewonnenen die Ueberlieferung zu kritisiren. zu läutern
und zu bereichern. Er weist nach, daß der Kalender dringend der Verbesserung
bedarf; er giebt eine Erdbeschreibung, bei welcher unter andern die Nachrichten
benutzt sind, welche einer von seinen Ordensbrüdern, der Franziskaner Wilhelm.
Von einer Reise an den Hof der Mongolenkönige mitgebracht hat; er liefert in
seiner Optik verschiedene vortreffliche Beobachtungen, z. B. über Strahlen¬
brechung, und eine genaue anatomische Beschreibung des menschlichen Auges.
Ueberall weist er auf den Weg des Experimentirens und selbstthätigen Unter-
suchens hin. aus dem das Meiste und Wichtigste gefunden werde, wie man denn
unter anderm auf ihm "jene salpeterhaltige Substanz, die. in einem kleinen
Rohr entzündet, donnerartiges Krachen erzeuge", entdeckt habe und ferner auf
ihm dahin gekommen sei, daß man --wer dächte hierbei nicht an eine Ahnung
von Eisenbahnlocomotiven und Dampfschiffen im dreizehnten Jahrhundert! --
"Wagen und Schiffe bauen könne, die sich ohne Pferde und Segel pfeilschnell
fortbewegen""). Allerdings findet sich bei ihm neben einem beträchtlichen Reich-



") Vgl, seine Schrift of Milits-es 8eielltig.rum (auch Opus ins^'u" betitelt) im sechsten
Theil.
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Und wie mit der Philosophie und Theologie, so verhielt sichs auch mit
allen andern Disciplinen. Die Größen der mittelalterlichen Schulen und Uni¬
versitäten waren seraphische, angelische, vor allem aber subtile Doctoren. niemals
oder selten unmittelbar schöpferische Geister. Ueberall schwor man in letzter Instanz
mehr oder minder auf Autoritäten, fast nirgends kam man über die Schranke
der Tradition hinaus. Was Albertus Magnus, der sinnigste, gedankenreichste
und gelehrteste aller Scholastiker, in seinen naturhistorischen Werken vorträgt,
ist nur zum kleinsten Theil, z. B. in den letzten.sechs Büchern deoSchrift über
die Thiere und in einigen seiner Capitel über die Pflanzen. Ergebniß eigner
Beobachtung, alles andere lediglich Auszug oder Bearbeitung des Aristoteles.

Roger Bacon. wie Goethes Faust Philosoph, Jurist. Mediciner und
Theolog und überdies noch Mathematiker und Physiker, ist. Mitte 'des drei¬
zehnten Jahrhunderts, der Erste, welcher die bisherige Methode für falsch er¬
klärt. Wegwerfend, wie alle zuerst gegen Verlebtes Protestirende, äußert er
sich über das Gewicht, welches die Schule auf Logik und Grammatik legt.
Diese Wissenschaften seien jedem angeboren, und statt Grammatik als solche zu
treiben, solle man sich lieber mit der Grammatik andrer Sprachen beschäftigen,
d. h.- lieber Hebräisch, Griechisch und Arabisch lernen, um die Bibel und Aristo¬
teles (an andere Griechen konnte er noch nicht denken), Avicenna und Averroes
statt, wie bisher, nur in Uebersetzungen voll Mißverständnisse und Lücken in
der Ursprache lesen zu können. Und in ähnlicher Weise strebt der vootor
miradiÜZ auch in andern Richtungen, namentlich als Physiker, über den engen
Kreis des damaligen Wissens hinaus, um aus dem Urborn der Erfahrung zu
schöpfen und mit dem Gewonnenen die Ueberlieferung zu kritisiren. zu läutern
und zu bereichern. Er weist nach, daß der Kalender dringend der Verbesserung
bedarf; er giebt eine Erdbeschreibung, bei welcher unter andern die Nachrichten
benutzt sind, welche einer von seinen Ordensbrüdern, der Franziskaner Wilhelm.
Von einer Reise an den Hof der Mongolenkönige mitgebracht hat; er liefert in
seiner Optik verschiedene vortreffliche Beobachtungen, z. B. über Strahlen¬
brechung, und eine genaue anatomische Beschreibung des menschlichen Auges.
Ueberall weist er auf den Weg des Experimentirens und selbstthätigen Unter-
suchens hin. aus dem das Meiste und Wichtigste gefunden werde, wie man denn
unter anderm auf ihm „jene salpeterhaltige Substanz, die. in einem kleinen
Rohr entzündet, donnerartiges Krachen erzeuge", entdeckt habe und ferner auf
ihm dahin gekommen sei, daß man —wer dächte hierbei nicht an eine Ahnung
von Eisenbahnlocomotiven und Dampfschiffen im dreizehnten Jahrhundert! —
„Wagen und Schiffe bauen könne, die sich ohne Pferde und Segel pfeilschnell
fortbewegen""). Allerdings findet sich bei ihm neben einem beträchtlichen Reich-



") Vgl, seine Schrift of Milits-es 8eielltig.rum (auch Opus ins^'u» betitelt) im sechsten
Theil.
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[0487] Und wie mit der Philosophie und Theologie, so verhielt sichs auch mit allen andern Disciplinen. Die Größen der mittelalterlichen Schulen und Uni¬ versitäten waren seraphische, angelische, vor allem aber subtile Doctoren. niemals oder selten unmittelbar schöpferische Geister. Ueberall schwor man in letzter Instanz mehr oder minder auf Autoritäten, fast nirgends kam man über die Schranke der Tradition hinaus. Was Albertus Magnus, der sinnigste, gedankenreichste und gelehrteste aller Scholastiker, in seinen naturhistorischen Werken vorträgt, ist nur zum kleinsten Theil, z. B. in den letzten.sechs Büchern deoSchrift über die Thiere und in einigen seiner Capitel über die Pflanzen. Ergebniß eigner Beobachtung, alles andere lediglich Auszug oder Bearbeitung des Aristoteles. Roger Bacon. wie Goethes Faust Philosoph, Jurist. Mediciner und Theolog und überdies noch Mathematiker und Physiker, ist. Mitte 'des drei¬ zehnten Jahrhunderts, der Erste, welcher die bisherige Methode für falsch er¬ klärt. Wegwerfend, wie alle zuerst gegen Verlebtes Protestirende, äußert er sich über das Gewicht, welches die Schule auf Logik und Grammatik legt. Diese Wissenschaften seien jedem angeboren, und statt Grammatik als solche zu treiben, solle man sich lieber mit der Grammatik andrer Sprachen beschäftigen, d. h.- lieber Hebräisch, Griechisch und Arabisch lernen, um die Bibel und Aristo¬ teles (an andere Griechen konnte er noch nicht denken), Avicenna und Averroes statt, wie bisher, nur in Uebersetzungen voll Mißverständnisse und Lücken in der Ursprache lesen zu können. Und in ähnlicher Weise strebt der vootor miradiÜZ auch in andern Richtungen, namentlich als Physiker, über den engen Kreis des damaligen Wissens hinaus, um aus dem Urborn der Erfahrung zu schöpfen und mit dem Gewonnenen die Ueberlieferung zu kritisiren. zu läutern und zu bereichern. Er weist nach, daß der Kalender dringend der Verbesserung bedarf; er giebt eine Erdbeschreibung, bei welcher unter andern die Nachrichten benutzt sind, welche einer von seinen Ordensbrüdern, der Franziskaner Wilhelm. Von einer Reise an den Hof der Mongolenkönige mitgebracht hat; er liefert in seiner Optik verschiedene vortreffliche Beobachtungen, z. B. über Strahlen¬ brechung, und eine genaue anatomische Beschreibung des menschlichen Auges. Ueberall weist er auf den Weg des Experimentirens und selbstthätigen Unter- suchens hin. aus dem das Meiste und Wichtigste gefunden werde, wie man denn unter anderm auf ihm „jene salpeterhaltige Substanz, die. in einem kleinen Rohr entzündet, donnerartiges Krachen erzeuge", entdeckt habe und ferner auf ihm dahin gekommen sei, daß man —wer dächte hierbei nicht an eine Ahnung von Eisenbahnlocomotiven und Dampfschiffen im dreizehnten Jahrhundert! — „Wagen und Schiffe bauen könne, die sich ohne Pferde und Segel pfeilschnell fortbewegen""). Allerdings findet sich bei ihm neben einem beträchtlichen Reich- ") Vgl, seine Schrift of Milits-es 8eielltig.rum (auch Opus ins^'u» betitelt) im sechsten Theil. 58'

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_284469/487>, abgerufen am 01.07.2024.