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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. I. Band.

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Anstandsgefühl. Denn dies allein konnte das Motiv geben für das künstlerisch
und natürlich gänzlich unmotivirte Stück Gewand, das, man begreift nicht
woran sich haltend, über dem Ansatz des vorgestreckten Oberschenkels liegt.

Mit dieser trefflichen Arbeit gleichzeitig ist der große Relieffries für den
Muscumshof entworfen und in Stuck an der Wand selbst ausgeführt worden.
Eine unglücklichere Stelle ist nie einem bedeutenden Kunstwerk zugewiesen ge¬
wesen, als diesem Fries. Die meisten seiner Theile ist es schlechterdings un¬
möglich überhaupt von irgendwoher zu sehen, hoch oben an den vier Wänden
des unzugänglichen Hoff, wie sie placirt sind. Und auch diese wenigen be¬
kommt man nur direct von unten oder ganz von oben zu Gesicht. Es ist das
um so mehr zu bedauern, als die genauere Betrachtung der ganzen Composition,
welche die in der Werkstatt befindliche Skizze gestattet, uns erkennen läßt, daß
hier eine Schöpfung von außerordentlichem Reichthum poetischer und echt pla¬
stisch gedachter Erfindung, von großartig freier und schöner Gestaltungskraft
vorliegt. Diese ganze lange Reihe von Reliefbildern, welche sich um die vier
Hofwände herumzieht, schildert den Untergang Pompejis und Herkulanums in
all jenen bewegten, reich wechselnden Scenen des Schreckens, des Verderbens,
der wunderbaren Errettung, wie sie theils Plinius Bericht, theils die weiter
daraus fortspinnende eigne Phantasie dem Künstler geboten hat. Alle aber ent¬
wickelt er aus einem Mittelpunkt oder einer Mittelgruppe, welche in präch¬
tiger und gewiß vollauf berechtigter Symbolik die unterirdischen furchtbaren
Naturgewalten personificirt. die das zerstörende Unheil auf die beiden dem Unter¬
gang (und in ihm -- der Erhaltung) geweihten Städte hernicdersenden. Aides,
der finstre unterweltliche Zeus, erhebt sich da in seiner drohenden Majestät; um
ihn herum haben die lang gefesselten Dämonen ihre lastende Decke gesprengt
und stürmen in wüthendem Aufschwung hervor, Felstrümmer und Aschenregen
nach allen Seiten hin schleudernd und ausgießend, unter welchen sie die Woh¬
nungen und Leiber der Menschen, Glück. Kunst und Leben begraben. Ist die
Intention in diesem Hauptbilde schon eine echt künstlerische und eigenartige, so
entspricht ihr eine plastische Verkörperung von großartiger Schönheit; in den
von hier aus sich entwickelnden Bildern, den Scenen des Untergangs selbst und
der Wirkung dieser entfesselten Kräfte herrscht das vielgestaltigste Leben. Die
Scene im Circus, mit dem durch den Zusammensturz und die eigne Verzweif¬
lung herbeigeführten Ausbruch der wilden Thiere; die Scene im Isistempel mit
den zu Füßen des Götterbildes niedergeworfnen Priesterinnen; jene unter den
Gästen und Theilnehmern des schwelgerischen Lustgelagcs; die Ankunft der Ge¬
retteten bei fernen Gastfreunden, und so viele andre noch beweisen eine glän¬
zende Freiheit und Leichtigkeit des Gestaltens; und in aller wilden Bewegung,
wie in aller Ruhe wird ein edler Rhythmus der Linien kund; mühelos fließen
dem Künstler Gestalten und Gruppen und ordnen sich ungesucht zum anmuth-


Anstandsgefühl. Denn dies allein konnte das Motiv geben für das künstlerisch
und natürlich gänzlich unmotivirte Stück Gewand, das, man begreift nicht
woran sich haltend, über dem Ansatz des vorgestreckten Oberschenkels liegt.

Mit dieser trefflichen Arbeit gleichzeitig ist der große Relieffries für den
Muscumshof entworfen und in Stuck an der Wand selbst ausgeführt worden.
Eine unglücklichere Stelle ist nie einem bedeutenden Kunstwerk zugewiesen ge¬
wesen, als diesem Fries. Die meisten seiner Theile ist es schlechterdings un¬
möglich überhaupt von irgendwoher zu sehen, hoch oben an den vier Wänden
des unzugänglichen Hoff, wie sie placirt sind. Und auch diese wenigen be¬
kommt man nur direct von unten oder ganz von oben zu Gesicht. Es ist das
um so mehr zu bedauern, als die genauere Betrachtung der ganzen Composition,
welche die in der Werkstatt befindliche Skizze gestattet, uns erkennen läßt, daß
hier eine Schöpfung von außerordentlichem Reichthum poetischer und echt pla¬
stisch gedachter Erfindung, von großartig freier und schöner Gestaltungskraft
vorliegt. Diese ganze lange Reihe von Reliefbildern, welche sich um die vier
Hofwände herumzieht, schildert den Untergang Pompejis und Herkulanums in
all jenen bewegten, reich wechselnden Scenen des Schreckens, des Verderbens,
der wunderbaren Errettung, wie sie theils Plinius Bericht, theils die weiter
daraus fortspinnende eigne Phantasie dem Künstler geboten hat. Alle aber ent¬
wickelt er aus einem Mittelpunkt oder einer Mittelgruppe, welche in präch¬
tiger und gewiß vollauf berechtigter Symbolik die unterirdischen furchtbaren
Naturgewalten personificirt. die das zerstörende Unheil auf die beiden dem Unter¬
gang (und in ihm — der Erhaltung) geweihten Städte hernicdersenden. Aides,
der finstre unterweltliche Zeus, erhebt sich da in seiner drohenden Majestät; um
ihn herum haben die lang gefesselten Dämonen ihre lastende Decke gesprengt
und stürmen in wüthendem Aufschwung hervor, Felstrümmer und Aschenregen
nach allen Seiten hin schleudernd und ausgießend, unter welchen sie die Woh¬
nungen und Leiber der Menschen, Glück. Kunst und Leben begraben. Ist die
Intention in diesem Hauptbilde schon eine echt künstlerische und eigenartige, so
entspricht ihr eine plastische Verkörperung von großartiger Schönheit; in den
von hier aus sich entwickelnden Bildern, den Scenen des Untergangs selbst und
der Wirkung dieser entfesselten Kräfte herrscht das vielgestaltigste Leben. Die
Scene im Circus, mit dem durch den Zusammensturz und die eigne Verzweif¬
lung herbeigeführten Ausbruch der wilden Thiere; die Scene im Isistempel mit
den zu Füßen des Götterbildes niedergeworfnen Priesterinnen; jene unter den
Gästen und Theilnehmern des schwelgerischen Lustgelagcs; die Ankunft der Ge¬
retteten bei fernen Gastfreunden, und so viele andre noch beweisen eine glän¬
zende Freiheit und Leichtigkeit des Gestaltens; und in aller wilden Bewegung,
wie in aller Ruhe wird ein edler Rhythmus der Linien kund; mühelos fließen
dem Künstler Gestalten und Gruppen und ordnen sich ungesucht zum anmuth-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_284469/457>, abgerufen am 01.07.2024.