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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. I. Band.

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sagten sie zu den Pakchas, wie sie die Europäer nannten, "verspeist den kleinen
Fisch, der Hund frißt den Menschen, der Mensch den Hund, Hunde verzehren
einander, Vögel thun desgleichen, ein Gott frißt den andern."

Eine andere Erklärung hat Hochstetter gegeben. Er meint, die Menschen¬
fresserei sei erst allmälig mit der Zunahme der Bevölkerung und der Abnahme
der jagdbaren Thiere auf den Inseln entstanden, also eine Folge der nach und
nach eingetretenen Unmöglichkeit, das Bedürfniß nach Fleischnahrung zu befrie¬
digen gewesen. Dieser Ansicht würde man beipflichten können, wenn die neuesten
Ereignisse sie nicht zum Theil widerlegten. Hochstetter denkt sich den Gang der
Dinge etwa so: die einzelnen Stämme erschöpften ihre Jagdgründe mit der
Zeit, sie suchten andere zu gewinnen, desgleichen fruchtbares Land und ergiebige
Stellen für Fischerei; sie geriethen dadurch mit den Nachbarn in Conflict, und
es kam zu Fehden, durch welche der Ackerbau in Vernachlässigung sank und
der Geist des Volkes mit blutigen Leidenschaften erfüllt wurde. Die Vögel.
Ratten und Hunde, welche man bis dahin gegessen, nahmen immer mehr ab,
der große Vogel Moa wurde ganz ausgerottet, und so stieg die Noth um Fleisch
immer mehr, bis Hunger im Verein mit kriegerischer Wuth endlich Einzelne,
dann das ganze Volk zu Kannibalen werden ließ. Wir sind andrer Meinung;
denn auch auf andern Südseeinseln, wo verwandte Stämme wohnen. aufweiche
Hochstetters Voraussetzungen nicht passen, herrschte und herrscht theilweise noch
jetzt die Menschenfresserei, und die Maori sind gegenwärtig, wo sie Fleischnahrung
aus dem Thierreiche zur Genüge haben, in ihren alten Hang zurückgefallen;
derselbe wird also ein ursprünglicher sein.

Dagegen hat Hochstetter in andern Beziehungen über die Maori richtig
geurtheilt, indem er nachgewiesen hat, daß die Civilisation, die ihnen von den
Missionären eingeimpft wurde, in der Hauptsache Schein und Oberfläche war.
Schon seit Cook wurden von Engländern und Franzosen Versuche gemacht,
Neuseeland in den Bereich der Cultur zu ziehen. Bereits 1815 erschienen
britische Misstonäre hier, um das Christenthum zu predigen, doch machte letzteres
erst um 1830 einige Fortschritte. Englischer Einfluß gewann damit die Ober¬
hand, und als die Franzosen infolge der Unternehmungen des abenteuerlichen
Baron Thierrv eine eigne Niederlassung zu begründen versuchten, die vermuth¬
lich mit der Besitznahme der Inseln endigen sollte, kam England diesen Ab-
sichten zuvor, indem es einer britischen Gesellschaft einen Freibrief zur Anlegung
von Colonien ertheilte. 1837 begann man mit diesen an der sogenannten
Jnselbucht auf der nördlichen Insel, und 1840 schon nahm Großbritannien ganz
Neuseeland in Besitz. Die Stadt Wellington wurde zum Hauptort erklärt,
daneben Auckland angelegt und ein Gouverneur eingesetzt. Das Christenthum
machte jetzt rasche Fortschritte, und die Maori ließen mehr und mehr von ihren
alten Neigungen und Bräuchen ab. Alles schien im besten Gange. Allein die


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sagten sie zu den Pakchas, wie sie die Europäer nannten, „verspeist den kleinen
Fisch, der Hund frißt den Menschen, der Mensch den Hund, Hunde verzehren
einander, Vögel thun desgleichen, ein Gott frißt den andern."

Eine andere Erklärung hat Hochstetter gegeben. Er meint, die Menschen¬
fresserei sei erst allmälig mit der Zunahme der Bevölkerung und der Abnahme
der jagdbaren Thiere auf den Inseln entstanden, also eine Folge der nach und
nach eingetretenen Unmöglichkeit, das Bedürfniß nach Fleischnahrung zu befrie¬
digen gewesen. Dieser Ansicht würde man beipflichten können, wenn die neuesten
Ereignisse sie nicht zum Theil widerlegten. Hochstetter denkt sich den Gang der
Dinge etwa so: die einzelnen Stämme erschöpften ihre Jagdgründe mit der
Zeit, sie suchten andere zu gewinnen, desgleichen fruchtbares Land und ergiebige
Stellen für Fischerei; sie geriethen dadurch mit den Nachbarn in Conflict, und
es kam zu Fehden, durch welche der Ackerbau in Vernachlässigung sank und
der Geist des Volkes mit blutigen Leidenschaften erfüllt wurde. Die Vögel.
Ratten und Hunde, welche man bis dahin gegessen, nahmen immer mehr ab,
der große Vogel Moa wurde ganz ausgerottet, und so stieg die Noth um Fleisch
immer mehr, bis Hunger im Verein mit kriegerischer Wuth endlich Einzelne,
dann das ganze Volk zu Kannibalen werden ließ. Wir sind andrer Meinung;
denn auch auf andern Südseeinseln, wo verwandte Stämme wohnen. aufweiche
Hochstetters Voraussetzungen nicht passen, herrschte und herrscht theilweise noch
jetzt die Menschenfresserei, und die Maori sind gegenwärtig, wo sie Fleischnahrung
aus dem Thierreiche zur Genüge haben, in ihren alten Hang zurückgefallen;
derselbe wird also ein ursprünglicher sein.

Dagegen hat Hochstetter in andern Beziehungen über die Maori richtig
geurtheilt, indem er nachgewiesen hat, daß die Civilisation, die ihnen von den
Missionären eingeimpft wurde, in der Hauptsache Schein und Oberfläche war.
Schon seit Cook wurden von Engländern und Franzosen Versuche gemacht,
Neuseeland in den Bereich der Cultur zu ziehen. Bereits 1815 erschienen
britische Misstonäre hier, um das Christenthum zu predigen, doch machte letzteres
erst um 1830 einige Fortschritte. Englischer Einfluß gewann damit die Ober¬
hand, und als die Franzosen infolge der Unternehmungen des abenteuerlichen
Baron Thierrv eine eigne Niederlassung zu begründen versuchten, die vermuth¬
lich mit der Besitznahme der Inseln endigen sollte, kam England diesen Ab-
sichten zuvor, indem es einer britischen Gesellschaft einen Freibrief zur Anlegung
von Colonien ertheilte. 1837 begann man mit diesen an der sogenannten
Jnselbucht auf der nördlichen Insel, und 1840 schon nahm Großbritannien ganz
Neuseeland in Besitz. Die Stadt Wellington wurde zum Hauptort erklärt,
daneben Auckland angelegt und ein Gouverneur eingesetzt. Das Christenthum
machte jetzt rasche Fortschritte, und die Maori ließen mehr und mehr von ihren
alten Neigungen und Bräuchen ab. Alles schien im besten Gange. Allein die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_284469/445>, abgerufen am 29.06.2024.