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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. I. Band.

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Freiheit in Preußen seine Berechtigung verliere, sobald er den Versuchen des
Ministeriums, das Terrain des Staates zu vergrößern, in den Weg trete.
Nicht selten hört man diese Auffassung so aussprechen, es sei besser, daß Preußen
durch einige Jahre ein despotisches Regiment ertrage, wenn durch dasselbe der
deutsche Bund in preußischem Interesse umgeformt werde, die Machtfrage sei
wichtiger als die Verfassungsfrage, sei die eine gelöst, werde die andere von
selbst in liberalem Sinne beantwortet werden müssen.

Zunächst hat diese Auffassung in Preußen selbst keine Aussicht, sich durch¬
zusetzen. Man kann ebenso gut einem Manne, der am Nervenfieber darnieder¬
liegt, den freundlichen Nath geben, ein Weib zu freien und seinen Hausstand
einzurichten, oder einem andern in dem Augenblick, wo ein Brand in seinem
Hause ausgebrochen ist, die nützliche Mahnung zugehen lassen, das Grundstück
eines Nachbars zu kaufen. Es ist fruchtlos, von einer politisch handelnden
Partei zu verlangen, daß sie eine Kampfwcise aufgebe, welche ihr den warmen
Antheil ihrer Wähler sichert, und es ist vergeblich, seinen Nachbarn Vertrauen
zu dem Charakter und der Kraft solcher Personen zu empfehlen, an denen sie
seit Jahren Inconsequenz, Gewaltthat, Willkür, den ausfallenden Mangel an
mehren der Eigenschaften, welche nach deutschen Begriffen einen zuverlässigen
Politiker bilden, bekämpft haben.

Ferner aber ist die Forderung: erst Macht, dann Freiheit, wenn sie auf
die gegenwärtigen Zustände Preußens angewendet wird, auch gefährlich. Unser
Liberalismus gleicht doch nicht einem einzelnen Gliede, welches wir uns ab¬
hauen können, oder in die Tasche stecken, wie eine geballte Faust? er ist unser
bestes Leben selbst, und wie die Natur uns zwingt, unablässig Athem zu holen,
müssen wir auch unser Freiheitsgefühl bethätigen, wo wir veranlaßt sind zu
reden, zu rathen, zu handeln. In der Kirche, im Staat, ja in der Kunst und
Wissenschaft ist er die Grundlage für jedes Urtheil, er leitet unsere Auffassung
des Rechts und der Sitten, er leitet unser Urtheil über jede Handlung eines
Andern und über die Bildung, Tüchtigkeit und den Charakter jedes Andern.
Was heißt dem Einzelnen in der Stille liberal sein? Vor sich selbst und vor andern
verächtlich werden. Und was jedem Einzelnen von uns unmöglich wäre, das
ist ebenso einem Volk und seinen Vertretern unmöglich. Was bedeutet für ein
Volk, fünf Jahr, zehn Jahr, bis die Macht kommt, sich Mißregiment unterwürfig
gefallen lassen? Das heißt für ein Volk unerhörtes Vertrauen erweisen, wo
man das heftigste Mißtrauen empfindet, das heißt sich selbst erniedrigen, um
eine Anwartschaft auf Stolz zu erhalten, das heißt sich zum Knecht machen,
damit unsere Kinder die Möglichkeit erhalten, den Herrn zu spielen.

Wer in der That solchen Rath gäbe, würde sich über die Natur des po¬
litischen Kampfes täuschen, den er mäßigen will. Man bedenke noch einmal,
daß es nicht zwei politisch gleichberechtigte Parteien sind, welche in Preußen auf


Freiheit in Preußen seine Berechtigung verliere, sobald er den Versuchen des
Ministeriums, das Terrain des Staates zu vergrößern, in den Weg trete.
Nicht selten hört man diese Auffassung so aussprechen, es sei besser, daß Preußen
durch einige Jahre ein despotisches Regiment ertrage, wenn durch dasselbe der
deutsche Bund in preußischem Interesse umgeformt werde, die Machtfrage sei
wichtiger als die Verfassungsfrage, sei die eine gelöst, werde die andere von
selbst in liberalem Sinne beantwortet werden müssen.

Zunächst hat diese Auffassung in Preußen selbst keine Aussicht, sich durch¬
zusetzen. Man kann ebenso gut einem Manne, der am Nervenfieber darnieder¬
liegt, den freundlichen Nath geben, ein Weib zu freien und seinen Hausstand
einzurichten, oder einem andern in dem Augenblick, wo ein Brand in seinem
Hause ausgebrochen ist, die nützliche Mahnung zugehen lassen, das Grundstück
eines Nachbars zu kaufen. Es ist fruchtlos, von einer politisch handelnden
Partei zu verlangen, daß sie eine Kampfwcise aufgebe, welche ihr den warmen
Antheil ihrer Wähler sichert, und es ist vergeblich, seinen Nachbarn Vertrauen
zu dem Charakter und der Kraft solcher Personen zu empfehlen, an denen sie
seit Jahren Inconsequenz, Gewaltthat, Willkür, den ausfallenden Mangel an
mehren der Eigenschaften, welche nach deutschen Begriffen einen zuverlässigen
Politiker bilden, bekämpft haben.

Ferner aber ist die Forderung: erst Macht, dann Freiheit, wenn sie auf
die gegenwärtigen Zustände Preußens angewendet wird, auch gefährlich. Unser
Liberalismus gleicht doch nicht einem einzelnen Gliede, welches wir uns ab¬
hauen können, oder in die Tasche stecken, wie eine geballte Faust? er ist unser
bestes Leben selbst, und wie die Natur uns zwingt, unablässig Athem zu holen,
müssen wir auch unser Freiheitsgefühl bethätigen, wo wir veranlaßt sind zu
reden, zu rathen, zu handeln. In der Kirche, im Staat, ja in der Kunst und
Wissenschaft ist er die Grundlage für jedes Urtheil, er leitet unsere Auffassung
des Rechts und der Sitten, er leitet unser Urtheil über jede Handlung eines
Andern und über die Bildung, Tüchtigkeit und den Charakter jedes Andern.
Was heißt dem Einzelnen in der Stille liberal sein? Vor sich selbst und vor andern
verächtlich werden. Und was jedem Einzelnen von uns unmöglich wäre, das
ist ebenso einem Volk und seinen Vertretern unmöglich. Was bedeutet für ein
Volk, fünf Jahr, zehn Jahr, bis die Macht kommt, sich Mißregiment unterwürfig
gefallen lassen? Das heißt für ein Volk unerhörtes Vertrauen erweisen, wo
man das heftigste Mißtrauen empfindet, das heißt sich selbst erniedrigen, um
eine Anwartschaft auf Stolz zu erhalten, das heißt sich zum Knecht machen,
damit unsere Kinder die Möglichkeit erhalten, den Herrn zu spielen.

Wer in der That solchen Rath gäbe, würde sich über die Natur des po¬
litischen Kampfes täuschen, den er mäßigen will. Man bedenke noch einmal,
daß es nicht zwei politisch gleichberechtigte Parteien sind, welche in Preußen auf


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[0436] Freiheit in Preußen seine Berechtigung verliere, sobald er den Versuchen des Ministeriums, das Terrain des Staates zu vergrößern, in den Weg trete. Nicht selten hört man diese Auffassung so aussprechen, es sei besser, daß Preußen durch einige Jahre ein despotisches Regiment ertrage, wenn durch dasselbe der deutsche Bund in preußischem Interesse umgeformt werde, die Machtfrage sei wichtiger als die Verfassungsfrage, sei die eine gelöst, werde die andere von selbst in liberalem Sinne beantwortet werden müssen. Zunächst hat diese Auffassung in Preußen selbst keine Aussicht, sich durch¬ zusetzen. Man kann ebenso gut einem Manne, der am Nervenfieber darnieder¬ liegt, den freundlichen Nath geben, ein Weib zu freien und seinen Hausstand einzurichten, oder einem andern in dem Augenblick, wo ein Brand in seinem Hause ausgebrochen ist, die nützliche Mahnung zugehen lassen, das Grundstück eines Nachbars zu kaufen. Es ist fruchtlos, von einer politisch handelnden Partei zu verlangen, daß sie eine Kampfwcise aufgebe, welche ihr den warmen Antheil ihrer Wähler sichert, und es ist vergeblich, seinen Nachbarn Vertrauen zu dem Charakter und der Kraft solcher Personen zu empfehlen, an denen sie seit Jahren Inconsequenz, Gewaltthat, Willkür, den ausfallenden Mangel an mehren der Eigenschaften, welche nach deutschen Begriffen einen zuverlässigen Politiker bilden, bekämpft haben. Ferner aber ist die Forderung: erst Macht, dann Freiheit, wenn sie auf die gegenwärtigen Zustände Preußens angewendet wird, auch gefährlich. Unser Liberalismus gleicht doch nicht einem einzelnen Gliede, welches wir uns ab¬ hauen können, oder in die Tasche stecken, wie eine geballte Faust? er ist unser bestes Leben selbst, und wie die Natur uns zwingt, unablässig Athem zu holen, müssen wir auch unser Freiheitsgefühl bethätigen, wo wir veranlaßt sind zu reden, zu rathen, zu handeln. In der Kirche, im Staat, ja in der Kunst und Wissenschaft ist er die Grundlage für jedes Urtheil, er leitet unsere Auffassung des Rechts und der Sitten, er leitet unser Urtheil über jede Handlung eines Andern und über die Bildung, Tüchtigkeit und den Charakter jedes Andern. Was heißt dem Einzelnen in der Stille liberal sein? Vor sich selbst und vor andern verächtlich werden. Und was jedem Einzelnen von uns unmöglich wäre, das ist ebenso einem Volk und seinen Vertretern unmöglich. Was bedeutet für ein Volk, fünf Jahr, zehn Jahr, bis die Macht kommt, sich Mißregiment unterwürfig gefallen lassen? Das heißt für ein Volk unerhörtes Vertrauen erweisen, wo man das heftigste Mißtrauen empfindet, das heißt sich selbst erniedrigen, um eine Anwartschaft auf Stolz zu erhalten, das heißt sich zum Knecht machen, damit unsere Kinder die Möglichkeit erhalten, den Herrn zu spielen. Wer in der That solchen Rath gäbe, würde sich über die Natur des po¬ litischen Kampfes täuschen, den er mäßigen will. Man bedenke noch einmal, daß es nicht zwei politisch gleichberechtigte Parteien sind, welche in Preußen auf

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_284469/436>, abgerufen am 29.06.2024.