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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. I. Band.

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Die beliebteste Form ist die Darstellung von Processen, für welche unser
Volk seit den frühsten Zeiten große Vorliebe und rege Theilnahme gehabt hat.
Daher die frühe Einführung der Streitgedichte in unsere Literatur und besonders
in das Drama, das geistliche wie das weltliche. Das Osterspiel verweilte mit
besonderem Behagen bei der sündigen Maria Magdalena und ließ in dem Zwie¬
gespräch mit Martha ihre Bekehrung nur langsam erfolgen. Die Paradiesspiele
lassen den sündigen Menschen gebunden durch Lucifer vor Gott schleppen und
seine Verstoßung verlangen, aber nur die Gerechtigkeit findet das Begehren
begründet, während die Barmherzigkeit den Menschen entschuldigt und Gottes
Gnade ansieht. Wenn diese Vorliebe sich bis ins siebzehnte Jahrhundert er¬
halten hat und noch in der ersten hamburgischen Oper 1678 der Rechtsstreit
über die Erlösung geführt wird, so wird man es erklärlich finden, daß unsere
Fastnachtsspiele zahlreiche Processe darbieten, zumal dieselben ihre Stoffe meistens
aus dem Leben der proceßsüchtigen Bauern schöpfen. Kläger und Beklagter
treten auf und führen ihre Sache selbst; nur in verwickelten Fragen wird auch
der Sachtreiber (der Advocat) oder Fürsprecher oder Worthalter zugezogen. Sind
es einfache eheliche Zwistigkeiten wegen zu häufigen WirthshauSbesucheö, wegen
eines verschenkten Hasens, wegen angeblicher Untreue, so übernehmen die
Schwiegereltern oder ein Nachbar oder ein Gevatter die Schlichtung deS Streites.
Aber der Proceß wird auch förmlich geführt, Richter und Schöppen sitzen zu
Gericht, Klage und Widerrede wird vorgetragen, jeder Beisitzer giebt sein Votum
ab und das Publikum ist wie im Gerichtssaale passiver Theilnehmer. Meistens
erscheinen Bauern als Richter. Wo eS sich aber um ein gegebenes Ehever¬
sprechen handelt, wird ein förmliches Kör- oder Ehegericht constituirt, die
Parteien erscheinen vor dem Official (Offizagel nennt ihn der unwissende Bauer)
und seinen Procuratorem und Notarien, und nach gethanen Spruch werden die
Streitenden als Eheleute proclamirt. In Erbschaftssachen tritt der König als
Richter auf; das Urtheil Salomons über die zwei Mütter ist mit großer Aus¬
führlichkeit behandelt. In dem Spiel vom babst, cardinal und von bischoffen (78)
werden weltliche und geistliche Fürsten vor Papst und Kaiser verklagt, diese
daß sie ihre Schäflein verderben, jene, daß sie die Länder mit Raub, Mord und
Brand verheeren, und auch die einzelnen Stände erheben Klage gegen einander,
namentlich der Ritter gegen die ihres Standes sich übersehenden Bauern und
Bürger. Zu großem Aerger des Edelmanns sagt freilich der Narr, daß die
Edelleute um ihrer Eitelkeit willen Burg und Land versetzten und umsonst
wiedersahen wollten; wolle man vor ihnen in Frieden leben, so solle man
ihnen fortan nichts mehr abkaufen und leihen. In Liebessachen tritt Frau
Venus (32) als Schiedsrichterin auf. Dem Scherze angemessen sind dann die
auferlegten Bußen; man soll zwei Viertel guten Wein, zwei Wecken und einen
Braten bringen (Ur. 24), die man am folgenden Morgen gemeinschaftlich ver-


Die beliebteste Form ist die Darstellung von Processen, für welche unser
Volk seit den frühsten Zeiten große Vorliebe und rege Theilnahme gehabt hat.
Daher die frühe Einführung der Streitgedichte in unsere Literatur und besonders
in das Drama, das geistliche wie das weltliche. Das Osterspiel verweilte mit
besonderem Behagen bei der sündigen Maria Magdalena und ließ in dem Zwie¬
gespräch mit Martha ihre Bekehrung nur langsam erfolgen. Die Paradiesspiele
lassen den sündigen Menschen gebunden durch Lucifer vor Gott schleppen und
seine Verstoßung verlangen, aber nur die Gerechtigkeit findet das Begehren
begründet, während die Barmherzigkeit den Menschen entschuldigt und Gottes
Gnade ansieht. Wenn diese Vorliebe sich bis ins siebzehnte Jahrhundert er¬
halten hat und noch in der ersten hamburgischen Oper 1678 der Rechtsstreit
über die Erlösung geführt wird, so wird man es erklärlich finden, daß unsere
Fastnachtsspiele zahlreiche Processe darbieten, zumal dieselben ihre Stoffe meistens
aus dem Leben der proceßsüchtigen Bauern schöpfen. Kläger und Beklagter
treten auf und führen ihre Sache selbst; nur in verwickelten Fragen wird auch
der Sachtreiber (der Advocat) oder Fürsprecher oder Worthalter zugezogen. Sind
es einfache eheliche Zwistigkeiten wegen zu häufigen WirthshauSbesucheö, wegen
eines verschenkten Hasens, wegen angeblicher Untreue, so übernehmen die
Schwiegereltern oder ein Nachbar oder ein Gevatter die Schlichtung deS Streites.
Aber der Proceß wird auch förmlich geführt, Richter und Schöppen sitzen zu
Gericht, Klage und Widerrede wird vorgetragen, jeder Beisitzer giebt sein Votum
ab und das Publikum ist wie im Gerichtssaale passiver Theilnehmer. Meistens
erscheinen Bauern als Richter. Wo eS sich aber um ein gegebenes Ehever¬
sprechen handelt, wird ein förmliches Kör- oder Ehegericht constituirt, die
Parteien erscheinen vor dem Official (Offizagel nennt ihn der unwissende Bauer)
und seinen Procuratorem und Notarien, und nach gethanen Spruch werden die
Streitenden als Eheleute proclamirt. In Erbschaftssachen tritt der König als
Richter auf; das Urtheil Salomons über die zwei Mütter ist mit großer Aus¬
führlichkeit behandelt. In dem Spiel vom babst, cardinal und von bischoffen (78)
werden weltliche und geistliche Fürsten vor Papst und Kaiser verklagt, diese
daß sie ihre Schäflein verderben, jene, daß sie die Länder mit Raub, Mord und
Brand verheeren, und auch die einzelnen Stände erheben Klage gegen einander,
namentlich der Ritter gegen die ihres Standes sich übersehenden Bauern und
Bürger. Zu großem Aerger des Edelmanns sagt freilich der Narr, daß die
Edelleute um ihrer Eitelkeit willen Burg und Land versetzten und umsonst
wiedersahen wollten; wolle man vor ihnen in Frieden leben, so solle man
ihnen fortan nichts mehr abkaufen und leihen. In Liebessachen tritt Frau
Venus (32) als Schiedsrichterin auf. Dem Scherze angemessen sind dann die
auferlegten Bußen; man soll zwei Viertel guten Wein, zwei Wecken und einen
Braten bringen (Ur. 24), die man am folgenden Morgen gemeinschaftlich ver-


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[0414] Die beliebteste Form ist die Darstellung von Processen, für welche unser Volk seit den frühsten Zeiten große Vorliebe und rege Theilnahme gehabt hat. Daher die frühe Einführung der Streitgedichte in unsere Literatur und besonders in das Drama, das geistliche wie das weltliche. Das Osterspiel verweilte mit besonderem Behagen bei der sündigen Maria Magdalena und ließ in dem Zwie¬ gespräch mit Martha ihre Bekehrung nur langsam erfolgen. Die Paradiesspiele lassen den sündigen Menschen gebunden durch Lucifer vor Gott schleppen und seine Verstoßung verlangen, aber nur die Gerechtigkeit findet das Begehren begründet, während die Barmherzigkeit den Menschen entschuldigt und Gottes Gnade ansieht. Wenn diese Vorliebe sich bis ins siebzehnte Jahrhundert er¬ halten hat und noch in der ersten hamburgischen Oper 1678 der Rechtsstreit über die Erlösung geführt wird, so wird man es erklärlich finden, daß unsere Fastnachtsspiele zahlreiche Processe darbieten, zumal dieselben ihre Stoffe meistens aus dem Leben der proceßsüchtigen Bauern schöpfen. Kläger und Beklagter treten auf und führen ihre Sache selbst; nur in verwickelten Fragen wird auch der Sachtreiber (der Advocat) oder Fürsprecher oder Worthalter zugezogen. Sind es einfache eheliche Zwistigkeiten wegen zu häufigen WirthshauSbesucheö, wegen eines verschenkten Hasens, wegen angeblicher Untreue, so übernehmen die Schwiegereltern oder ein Nachbar oder ein Gevatter die Schlichtung deS Streites. Aber der Proceß wird auch förmlich geführt, Richter und Schöppen sitzen zu Gericht, Klage und Widerrede wird vorgetragen, jeder Beisitzer giebt sein Votum ab und das Publikum ist wie im Gerichtssaale passiver Theilnehmer. Meistens erscheinen Bauern als Richter. Wo eS sich aber um ein gegebenes Ehever¬ sprechen handelt, wird ein förmliches Kör- oder Ehegericht constituirt, die Parteien erscheinen vor dem Official (Offizagel nennt ihn der unwissende Bauer) und seinen Procuratorem und Notarien, und nach gethanen Spruch werden die Streitenden als Eheleute proclamirt. In Erbschaftssachen tritt der König als Richter auf; das Urtheil Salomons über die zwei Mütter ist mit großer Aus¬ führlichkeit behandelt. In dem Spiel vom babst, cardinal und von bischoffen (78) werden weltliche und geistliche Fürsten vor Papst und Kaiser verklagt, diese daß sie ihre Schäflein verderben, jene, daß sie die Länder mit Raub, Mord und Brand verheeren, und auch die einzelnen Stände erheben Klage gegen einander, namentlich der Ritter gegen die ihres Standes sich übersehenden Bauern und Bürger. Zu großem Aerger des Edelmanns sagt freilich der Narr, daß die Edelleute um ihrer Eitelkeit willen Burg und Land versetzten und umsonst wiedersahen wollten; wolle man vor ihnen in Frieden leben, so solle man ihnen fortan nichts mehr abkaufen und leihen. In Liebessachen tritt Frau Venus (32) als Schiedsrichterin auf. Dem Scherze angemessen sind dann die auferlegten Bußen; man soll zwei Viertel guten Wein, zwei Wecken und einen Braten bringen (Ur. 24), die man am folgenden Morgen gemeinschaftlich ver-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_284469/414>, abgerufen am 29.06.2024.