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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. I. Band.

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regsamer, von größerem Gesichtskreis und mehr bestrebt, mit der Zeit fortzu¬
schreiten, und nicht wenige vom dortigen Adel theilen dieses Streben.

Dennoch herrschte auch in Livland bis auf die letzten Jahre im Vergleich
mit andern deutschen Ländern der Geist vor, der sich in allen vorwiegend Land-
Wirthschaft treibenden Gegenden kundgiebt. Das Interesse der Mehrzahl rich¬
tete sich fast ausschließlich auf das Mehr oder Weniger von Besitz und Erwerb.
Richt blos der Körper dieser adeligen Landwirthe, auch der Geist nahm eine,
so zu sagen, terrestrische Richtung. Schwerfällig konservativ gegenüber den von
Einzelnen aus ihrer Mitte angeregten Reformen, bewahrten sie das Altherge¬
brachte in ihremKreist, und die Bürger der Städte thaten desgleichen in dem ihrigen.
Ueberall erhielt sich unter dem Schutz der Landesprivilegien eine antediluvianische
Welt von feudalen Institutionen, Rechts- und Freiheitsbeschränkungen, Zunft-
gesetzen, Vetternschaften und andern Protectionen von Unrecht und Eigennutz.
Wie der Adel der Gesammtheit der übrigen Stände, so nahm das Patriciat
der Städte der Masse der übrigen städtischen Bevölkerung gegenüber eine außer¬
ordentlich bevorzugte Stellung ein, und so wenig dieses Patriciat mit der grund¬
besitzenden Aristokratie harmonirte, so unbedingt ging es mit ihr Hand in Hand,
wenn es galt, Reformversuchen entgegenzutreten. Der städtische Bürger ver-
sagte kein Fiemden Wohnung und bürgerliche Nahrung, die patricischen Ge¬
schlechter wollten den übrigen Städtern nicht Antheil gönnen an der Regierung
des Gemeinwesens, der Grundherr suchte die Lasten der Hörigen zu mehren und
ihnen jeden Rechtsschutz zu entziehen.

Besonders traurig war bis auf die Gegenwart das Verhältniß des Adels
SU der bäuerlichen Bevölkerung. Diej^e Liven, Letten und Esthen waren auch
nachdem die Leibeigenschaft 1817 von ihnen genommen war, im Zustande kläg.
wehster Abhängigkeit von ihren ehemaligen Herren, in tiefster Unwissenheit und
ohne allen Anhalt, sich aus ihrer gedrückten Lage emporzuhelfen. Was zu ihrer
Hebung geschehen war, hatten sie immer nur dem Eingreifen der Fürstenmacht
Zu danken gehabt, früher der schwedischen, später der russischen. Eine große
^uft trennte sie von den Deutschen, die nie daran gedacht hatten, sie zu ger-
Manlsiren, wie dies mit ihren Stammgenossen in Ostpreußen geschehen war,
sondern im Gegentheil die Schranke, welche Sprache und Sitte zwischen ihnen
Und dem Bauernvolke bildeten, für erhaltenswerth anzusehen schienen. Die
Folge war, daß der Bauer den Deutschen und namentlich den großen Guts¬
besitzer beneidete und haßte, und daß, als in neuerer Zeit das Nussenthum sich '
nut der Miene hilfreichen Sinnes den Letten zu empfehlen suchte, es vielfach ge¬
neigtes Gehör bei ihnen fand. Es entstand ein slavophiler Verein, der unter
Namen der junglettischen Partei den Zweck verfolgte, das allmälige Auf¬
gehen der Letten in die slavische Völkerfamilie mit Umgehung der deutschen
Cultur zu fördern. Das Organ dieser Bestrebungen war die "Petersburgas


regsamer, von größerem Gesichtskreis und mehr bestrebt, mit der Zeit fortzu¬
schreiten, und nicht wenige vom dortigen Adel theilen dieses Streben.

Dennoch herrschte auch in Livland bis auf die letzten Jahre im Vergleich
mit andern deutschen Ländern der Geist vor, der sich in allen vorwiegend Land-
Wirthschaft treibenden Gegenden kundgiebt. Das Interesse der Mehrzahl rich¬
tete sich fast ausschließlich auf das Mehr oder Weniger von Besitz und Erwerb.
Richt blos der Körper dieser adeligen Landwirthe, auch der Geist nahm eine,
so zu sagen, terrestrische Richtung. Schwerfällig konservativ gegenüber den von
Einzelnen aus ihrer Mitte angeregten Reformen, bewahrten sie das Altherge¬
brachte in ihremKreist, und die Bürger der Städte thaten desgleichen in dem ihrigen.
Ueberall erhielt sich unter dem Schutz der Landesprivilegien eine antediluvianische
Welt von feudalen Institutionen, Rechts- und Freiheitsbeschränkungen, Zunft-
gesetzen, Vetternschaften und andern Protectionen von Unrecht und Eigennutz.
Wie der Adel der Gesammtheit der übrigen Stände, so nahm das Patriciat
der Städte der Masse der übrigen städtischen Bevölkerung gegenüber eine außer¬
ordentlich bevorzugte Stellung ein, und so wenig dieses Patriciat mit der grund¬
besitzenden Aristokratie harmonirte, so unbedingt ging es mit ihr Hand in Hand,
wenn es galt, Reformversuchen entgegenzutreten. Der städtische Bürger ver-
sagte kein Fiemden Wohnung und bürgerliche Nahrung, die patricischen Ge¬
schlechter wollten den übrigen Städtern nicht Antheil gönnen an der Regierung
des Gemeinwesens, der Grundherr suchte die Lasten der Hörigen zu mehren und
ihnen jeden Rechtsschutz zu entziehen.

Besonders traurig war bis auf die Gegenwart das Verhältniß des Adels
SU der bäuerlichen Bevölkerung. Diej^e Liven, Letten und Esthen waren auch
nachdem die Leibeigenschaft 1817 von ihnen genommen war, im Zustande kläg.
wehster Abhängigkeit von ihren ehemaligen Herren, in tiefster Unwissenheit und
ohne allen Anhalt, sich aus ihrer gedrückten Lage emporzuhelfen. Was zu ihrer
Hebung geschehen war, hatten sie immer nur dem Eingreifen der Fürstenmacht
Zu danken gehabt, früher der schwedischen, später der russischen. Eine große
^uft trennte sie von den Deutschen, die nie daran gedacht hatten, sie zu ger-
Manlsiren, wie dies mit ihren Stammgenossen in Ostpreußen geschehen war,
sondern im Gegentheil die Schranke, welche Sprache und Sitte zwischen ihnen
Und dem Bauernvolke bildeten, für erhaltenswerth anzusehen schienen. Die
Folge war, daß der Bauer den Deutschen und namentlich den großen Guts¬
besitzer beneidete und haßte, und daß, als in neuerer Zeit das Nussenthum sich '
nut der Miene hilfreichen Sinnes den Letten zu empfehlen suchte, es vielfach ge¬
neigtes Gehör bei ihnen fand. Es entstand ein slavophiler Verein, der unter
Namen der junglettischen Partei den Zweck verfolgte, das allmälige Auf¬
gehen der Letten in die slavische Völkerfamilie mit Umgehung der deutschen
Cultur zu fördern. Das Organ dieser Bestrebungen war die „Petersburgas


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[0405] regsamer, von größerem Gesichtskreis und mehr bestrebt, mit der Zeit fortzu¬ schreiten, und nicht wenige vom dortigen Adel theilen dieses Streben. Dennoch herrschte auch in Livland bis auf die letzten Jahre im Vergleich mit andern deutschen Ländern der Geist vor, der sich in allen vorwiegend Land- Wirthschaft treibenden Gegenden kundgiebt. Das Interesse der Mehrzahl rich¬ tete sich fast ausschließlich auf das Mehr oder Weniger von Besitz und Erwerb. Richt blos der Körper dieser adeligen Landwirthe, auch der Geist nahm eine, so zu sagen, terrestrische Richtung. Schwerfällig konservativ gegenüber den von Einzelnen aus ihrer Mitte angeregten Reformen, bewahrten sie das Altherge¬ brachte in ihremKreist, und die Bürger der Städte thaten desgleichen in dem ihrigen. Ueberall erhielt sich unter dem Schutz der Landesprivilegien eine antediluvianische Welt von feudalen Institutionen, Rechts- und Freiheitsbeschränkungen, Zunft- gesetzen, Vetternschaften und andern Protectionen von Unrecht und Eigennutz. Wie der Adel der Gesammtheit der übrigen Stände, so nahm das Patriciat der Städte der Masse der übrigen städtischen Bevölkerung gegenüber eine außer¬ ordentlich bevorzugte Stellung ein, und so wenig dieses Patriciat mit der grund¬ besitzenden Aristokratie harmonirte, so unbedingt ging es mit ihr Hand in Hand, wenn es galt, Reformversuchen entgegenzutreten. Der städtische Bürger ver- sagte kein Fiemden Wohnung und bürgerliche Nahrung, die patricischen Ge¬ schlechter wollten den übrigen Städtern nicht Antheil gönnen an der Regierung des Gemeinwesens, der Grundherr suchte die Lasten der Hörigen zu mehren und ihnen jeden Rechtsschutz zu entziehen. Besonders traurig war bis auf die Gegenwart das Verhältniß des Adels SU der bäuerlichen Bevölkerung. Diej^e Liven, Letten und Esthen waren auch nachdem die Leibeigenschaft 1817 von ihnen genommen war, im Zustande kläg. wehster Abhängigkeit von ihren ehemaligen Herren, in tiefster Unwissenheit und ohne allen Anhalt, sich aus ihrer gedrückten Lage emporzuhelfen. Was zu ihrer Hebung geschehen war, hatten sie immer nur dem Eingreifen der Fürstenmacht Zu danken gehabt, früher der schwedischen, später der russischen. Eine große ^uft trennte sie von den Deutschen, die nie daran gedacht hatten, sie zu ger- Manlsiren, wie dies mit ihren Stammgenossen in Ostpreußen geschehen war, sondern im Gegentheil die Schranke, welche Sprache und Sitte zwischen ihnen Und dem Bauernvolke bildeten, für erhaltenswerth anzusehen schienen. Die Folge war, daß der Bauer den Deutschen und namentlich den großen Guts¬ besitzer beneidete und haßte, und daß, als in neuerer Zeit das Nussenthum sich ' nut der Miene hilfreichen Sinnes den Letten zu empfehlen suchte, es vielfach ge¬ neigtes Gehör bei ihnen fand. Es entstand ein slavophiler Verein, der unter Namen der junglettischen Partei den Zweck verfolgte, das allmälige Auf¬ gehen der Letten in die slavische Völkerfamilie mit Umgehung der deutschen Cultur zu fördern. Das Organ dieser Bestrebungen war die „Petersburgas

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_284469/405>, abgerufen am 29.06.2024.