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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. I. Band.

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an jene Provinzen sehr bald herantreten. Noch scheint die Regierung wenig
oder nichts auf die Verdächtigungen und Rathschläge der Großrussen in Betreff
der Deutschen in Liv- und Kurland zu geben, aber eine gewisse Schwankung
derselben kündigt sich doch an. Noch ist nichts geschehen, um dem fortwähren¬
den Drängen der Großrussen nach vollständiger Verschmelzung der heterogenen
baltischen Länder mit dem Gesammtreiche Genüge zu thun. 'Aber im vorigen
August konnte man doch schon in der officiösen "Russischen Korrespondenz" in
Bezug aus die gasteiner Convention bedenkliche Andeutungen lesen, ja es war
deutlich ausgesprochen, daß Angesichts der Gefahren, mit welchen eine große
preußische Flotte Rußland bedrohe, eine vollständige Asstmilirung der Ostsee¬
provinzen zur gebieterischen Pflicht werde, da Rußland gegen den immer mehr
wachsenden Germanismus fester und starker Grenzen bedürfe.

Treffe" die bisher angeführten Vorwürfe die baltischen Deutschen nicht, so
waren andere bis vor Kurzem um so begründeter; und wieder andere sind es
noch jetzt. Das gilt von allen Theilen der Ostseeprovinzen. besonders aber galt
es bis auf die letzte Zeit von Kurland. In Livland war von Anfang an das
Bürgerthum eine Macht, und dieselbe erhielt sich, als man genöthigt war, die
Ritterschaft zum Schutz gegen äußere Feinde ins Land zu rufen. Kurland da-
gegen war von den Rittern allein erobert worden, und die wenigen deutschen
Handel- und Gewerbtreibenden, die Kier sich angesiedelt, spielten eine völlig
untergeordnete Rolle. In Livland waren die Ritterschaft unter ihren Heermei¬
stern, die Priesterschaft unter den Erzbischöfen, die Bürgerschaft unter ihren
Stadträthen jede zu einem Stande emporgewachsen, der kräftig festhielt, was
ihm gebührte, und' den andern Ständen lassen mußte, was diesen zukam. Alle
hielten zusammen gegen außen, und so konnte Esthland dem Ritterstaat gewon¬
nen werden und dieser eine Zeit lang eine wichtige Stellung einnehmen im
Norden Europas. Als endlich das Unglück unaufhaltsam hereinbrach, sicherten
sich die die Liv- und Esthländer im nystävter Frieden und durch die rigasche
Kapitulation wenigstens ihren alten Besitz in Recht, Sitte, Sprache und Bekennt¬
niß. Kurland dagegen war und blieb immer nur das Land eines Standes, des
Adels, und erst Familienzwiste, dann Streitigkeiten zwischen den Herzögen und
der Aristokratie bilden seine Geschichte, bis endlich 1795 eine Deputation aus
der Mitte der letzteren die Herzogskrone der Kaiserin Katharina bedingungslos
zu Füßen legte.

Dieser verschiedene Gang der Geschichte der beiden Länder hat ihnen auch
eine verschiedene Physiognomie aufgeprägt. In Kurland wird die höhere Bil¬
dung fast allein von den Adeligen repräsentirt, der Mittelstand denkt mit ge'
ringen Ausnahmen beinahe nur an den Broderwerb und ist in Bezug auf diesen
vielfach auf den Adel angewiesen und daher von demselben abhängig. Livlands
Mittelstand dagegen ist nicht nur zahlreicher und unabhängiger, sondern auch


an jene Provinzen sehr bald herantreten. Noch scheint die Regierung wenig
oder nichts auf die Verdächtigungen und Rathschläge der Großrussen in Betreff
der Deutschen in Liv- und Kurland zu geben, aber eine gewisse Schwankung
derselben kündigt sich doch an. Noch ist nichts geschehen, um dem fortwähren¬
den Drängen der Großrussen nach vollständiger Verschmelzung der heterogenen
baltischen Länder mit dem Gesammtreiche Genüge zu thun. 'Aber im vorigen
August konnte man doch schon in der officiösen „Russischen Korrespondenz" in
Bezug aus die gasteiner Convention bedenkliche Andeutungen lesen, ja es war
deutlich ausgesprochen, daß Angesichts der Gefahren, mit welchen eine große
preußische Flotte Rußland bedrohe, eine vollständige Asstmilirung der Ostsee¬
provinzen zur gebieterischen Pflicht werde, da Rußland gegen den immer mehr
wachsenden Germanismus fester und starker Grenzen bedürfe.

Treffe» die bisher angeführten Vorwürfe die baltischen Deutschen nicht, so
waren andere bis vor Kurzem um so begründeter; und wieder andere sind es
noch jetzt. Das gilt von allen Theilen der Ostseeprovinzen. besonders aber galt
es bis auf die letzte Zeit von Kurland. In Livland war von Anfang an das
Bürgerthum eine Macht, und dieselbe erhielt sich, als man genöthigt war, die
Ritterschaft zum Schutz gegen äußere Feinde ins Land zu rufen. Kurland da-
gegen war von den Rittern allein erobert worden, und die wenigen deutschen
Handel- und Gewerbtreibenden, die Kier sich angesiedelt, spielten eine völlig
untergeordnete Rolle. In Livland waren die Ritterschaft unter ihren Heermei¬
stern, die Priesterschaft unter den Erzbischöfen, die Bürgerschaft unter ihren
Stadträthen jede zu einem Stande emporgewachsen, der kräftig festhielt, was
ihm gebührte, und' den andern Ständen lassen mußte, was diesen zukam. Alle
hielten zusammen gegen außen, und so konnte Esthland dem Ritterstaat gewon¬
nen werden und dieser eine Zeit lang eine wichtige Stellung einnehmen im
Norden Europas. Als endlich das Unglück unaufhaltsam hereinbrach, sicherten
sich die die Liv- und Esthländer im nystävter Frieden und durch die rigasche
Kapitulation wenigstens ihren alten Besitz in Recht, Sitte, Sprache und Bekennt¬
niß. Kurland dagegen war und blieb immer nur das Land eines Standes, des
Adels, und erst Familienzwiste, dann Streitigkeiten zwischen den Herzögen und
der Aristokratie bilden seine Geschichte, bis endlich 1795 eine Deputation aus
der Mitte der letzteren die Herzogskrone der Kaiserin Katharina bedingungslos
zu Füßen legte.

Dieser verschiedene Gang der Geschichte der beiden Länder hat ihnen auch
eine verschiedene Physiognomie aufgeprägt. In Kurland wird die höhere Bil¬
dung fast allein von den Adeligen repräsentirt, der Mittelstand denkt mit ge'
ringen Ausnahmen beinahe nur an den Broderwerb und ist in Bezug auf diesen
vielfach auf den Adel angewiesen und daher von demselben abhängig. Livlands
Mittelstand dagegen ist nicht nur zahlreicher und unabhängiger, sondern auch


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[0404] an jene Provinzen sehr bald herantreten. Noch scheint die Regierung wenig oder nichts auf die Verdächtigungen und Rathschläge der Großrussen in Betreff der Deutschen in Liv- und Kurland zu geben, aber eine gewisse Schwankung derselben kündigt sich doch an. Noch ist nichts geschehen, um dem fortwähren¬ den Drängen der Großrussen nach vollständiger Verschmelzung der heterogenen baltischen Länder mit dem Gesammtreiche Genüge zu thun. 'Aber im vorigen August konnte man doch schon in der officiösen „Russischen Korrespondenz" in Bezug aus die gasteiner Convention bedenkliche Andeutungen lesen, ja es war deutlich ausgesprochen, daß Angesichts der Gefahren, mit welchen eine große preußische Flotte Rußland bedrohe, eine vollständige Asstmilirung der Ostsee¬ provinzen zur gebieterischen Pflicht werde, da Rußland gegen den immer mehr wachsenden Germanismus fester und starker Grenzen bedürfe. Treffe» die bisher angeführten Vorwürfe die baltischen Deutschen nicht, so waren andere bis vor Kurzem um so begründeter; und wieder andere sind es noch jetzt. Das gilt von allen Theilen der Ostseeprovinzen. besonders aber galt es bis auf die letzte Zeit von Kurland. In Livland war von Anfang an das Bürgerthum eine Macht, und dieselbe erhielt sich, als man genöthigt war, die Ritterschaft zum Schutz gegen äußere Feinde ins Land zu rufen. Kurland da- gegen war von den Rittern allein erobert worden, und die wenigen deutschen Handel- und Gewerbtreibenden, die Kier sich angesiedelt, spielten eine völlig untergeordnete Rolle. In Livland waren die Ritterschaft unter ihren Heermei¬ stern, die Priesterschaft unter den Erzbischöfen, die Bürgerschaft unter ihren Stadträthen jede zu einem Stande emporgewachsen, der kräftig festhielt, was ihm gebührte, und' den andern Ständen lassen mußte, was diesen zukam. Alle hielten zusammen gegen außen, und so konnte Esthland dem Ritterstaat gewon¬ nen werden und dieser eine Zeit lang eine wichtige Stellung einnehmen im Norden Europas. Als endlich das Unglück unaufhaltsam hereinbrach, sicherten sich die die Liv- und Esthländer im nystävter Frieden und durch die rigasche Kapitulation wenigstens ihren alten Besitz in Recht, Sitte, Sprache und Bekennt¬ niß. Kurland dagegen war und blieb immer nur das Land eines Standes, des Adels, und erst Familienzwiste, dann Streitigkeiten zwischen den Herzögen und der Aristokratie bilden seine Geschichte, bis endlich 1795 eine Deputation aus der Mitte der letzteren die Herzogskrone der Kaiserin Katharina bedingungslos zu Füßen legte. Dieser verschiedene Gang der Geschichte der beiden Länder hat ihnen auch eine verschiedene Physiognomie aufgeprägt. In Kurland wird die höhere Bil¬ dung fast allein von den Adeligen repräsentirt, der Mittelstand denkt mit ge' ringen Ausnahmen beinahe nur an den Broderwerb und ist in Bezug auf diesen vielfach auf den Adel angewiesen und daher von demselben abhängig. Livlands Mittelstand dagegen ist nicht nur zahlreicher und unabhängiger, sondern auch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_284469/404>, abgerufen am 29.06.2024.