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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. I. Band.

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Umstand einen Begriff, daß diese Konvertiten sich heimlich in den lutherischen
Kirchen zur Communion einschleichen, was sie "sich das Abendmahl stehlen
gehen" nennen. In vielen Gegenden leben sie lieber in wilder Ehe. als daß
sie sich zu dem von den Popen bei der Trauung geforderten Revers bequemten,
ihre Kinder griechisch taufen zu lassen. Seltsam lautete die Nachricht, daß Erz.
bischof Platon den Armen einer Bauerngemeinde an der Dura aus eignen
Mitteln dafür, daß sie den Wunsch zur Rückkehr in die protestantische Kirche
nicht ausgesprochen, 300 Rubel geschenkt habe.

Ebenso abgeschmackt wie die Klagen der Moskaner Zeitung über die Be¬
drängung der russischen Kirche in Livland und Kurland waren die Fabeln, welche
dasselbe Blatt von einer in den baltischen Ländern bestehenden Separatistenver-
schwörung seinen Lesern auftischte. Alles Derartige aber wurde überboten von
einem Artikel über Livland, den man Mitte vorigen Jahres in den Publicatio¬
nen der bei der moskauer Universität bestehenden Gesellschaft für russische Ge¬
schichte zu lesen bekam. Man genoß da unter Andern folgenden blühenden
Unsinn: "Das gegenwärtige Jahrhundert hat Livland beträchtlich von Rußland
entfernt. Der Grund davon war die Begründung der Universität Dorpat nach
deutschem Rechte. Die heutige Generation der Livländer, die aus Studenten
jener Universität besteht, hat eine Corporation mit dem Rainen "Jung Livland"
gegründet. Sie haben sich über das ganze Land verbreitet, und jeder von ihnen
eifert in seinem Kreise gegen Rußland. Der Adel lärmt auf den Landtagen,
Andre thun desgleichen in Volksversammlungen und treten nicht in den Staats¬
dienst. Dieses Jung-Livland wird zu seinem Gebühren vermuthlich von Herrn-
hutern, Pietisten und Muckern angeregt und unterstützt. Die letztern haben in
Königsberg ihr Nest und haben sich von dort über ganz Deutschland und die
Ostseeprovinzen verbreitet. Die preußische Regierung aber hat sie entdeckt und
verfolgt sie." Wie muß es mit dem wissenschaftlichen Ernst der gelehrten Kör¬
perschaft bestellt sein, deren Annalen sür Avsmdidäten dieser Sorte Platz haben
"ut in zwei Bänden nicht weniger als vier auf Livland bezügliche Aufsätze ver¬
wandten Charakters bringen konnten? Und wenn das am grünen Holz der
Moskaner Wissenschaft geschieht, was soll man vom dürren Holz der dortigen
Journalistik erwarten? Preußen und die Deutschen überhaupt mögen bei
Seiten die Gefahren erkenne", welche ihnen von Osten her drohen, sobald die
immer mächtiger ihr Haupt erhebende katkvffsche oder jungrussische Partei ein¬
mal an das Staatsruder gelangt. Die Deutschen in den Ostseeprovinzen aber
werden wohl thun, sich mit den Reformen, zu welchen sie sich endlich entschlos¬
sn haben, zu beeilen; denn nur durch raschen Fortschritt werden sie zu rechter
Zeit in den Stand gelangen, alle Angriffe der Gegner als Verläumdung zurück¬
weisen zu können. Nimmt der politische Umschwung in Deutschland den Ber-
^us. den man jetzt zu erwarten Ursache hat, so wird der nivellirende Gegner


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Umstand einen Begriff, daß diese Konvertiten sich heimlich in den lutherischen
Kirchen zur Communion einschleichen, was sie „sich das Abendmahl stehlen
gehen" nennen. In vielen Gegenden leben sie lieber in wilder Ehe. als daß
sie sich zu dem von den Popen bei der Trauung geforderten Revers bequemten,
ihre Kinder griechisch taufen zu lassen. Seltsam lautete die Nachricht, daß Erz.
bischof Platon den Armen einer Bauerngemeinde an der Dura aus eignen
Mitteln dafür, daß sie den Wunsch zur Rückkehr in die protestantische Kirche
nicht ausgesprochen, 300 Rubel geschenkt habe.

Ebenso abgeschmackt wie die Klagen der Moskaner Zeitung über die Be¬
drängung der russischen Kirche in Livland und Kurland waren die Fabeln, welche
dasselbe Blatt von einer in den baltischen Ländern bestehenden Separatistenver-
schwörung seinen Lesern auftischte. Alles Derartige aber wurde überboten von
einem Artikel über Livland, den man Mitte vorigen Jahres in den Publicatio¬
nen der bei der moskauer Universität bestehenden Gesellschaft für russische Ge¬
schichte zu lesen bekam. Man genoß da unter Andern folgenden blühenden
Unsinn: „Das gegenwärtige Jahrhundert hat Livland beträchtlich von Rußland
entfernt. Der Grund davon war die Begründung der Universität Dorpat nach
deutschem Rechte. Die heutige Generation der Livländer, die aus Studenten
jener Universität besteht, hat eine Corporation mit dem Rainen „Jung Livland"
gegründet. Sie haben sich über das ganze Land verbreitet, und jeder von ihnen
eifert in seinem Kreise gegen Rußland. Der Adel lärmt auf den Landtagen,
Andre thun desgleichen in Volksversammlungen und treten nicht in den Staats¬
dienst. Dieses Jung-Livland wird zu seinem Gebühren vermuthlich von Herrn-
hutern, Pietisten und Muckern angeregt und unterstützt. Die letztern haben in
Königsberg ihr Nest und haben sich von dort über ganz Deutschland und die
Ostseeprovinzen verbreitet. Die preußische Regierung aber hat sie entdeckt und
verfolgt sie." Wie muß es mit dem wissenschaftlichen Ernst der gelehrten Kör¬
perschaft bestellt sein, deren Annalen sür Avsmdidäten dieser Sorte Platz haben
"ut in zwei Bänden nicht weniger als vier auf Livland bezügliche Aufsätze ver¬
wandten Charakters bringen konnten? Und wenn das am grünen Holz der
Moskaner Wissenschaft geschieht, was soll man vom dürren Holz der dortigen
Journalistik erwarten? Preußen und die Deutschen überhaupt mögen bei
Seiten die Gefahren erkenne», welche ihnen von Osten her drohen, sobald die
immer mächtiger ihr Haupt erhebende katkvffsche oder jungrussische Partei ein¬
mal an das Staatsruder gelangt. Die Deutschen in den Ostseeprovinzen aber
werden wohl thun, sich mit den Reformen, zu welchen sie sich endlich entschlos¬
sn haben, zu beeilen; denn nur durch raschen Fortschritt werden sie zu rechter
Zeit in den Stand gelangen, alle Angriffe der Gegner als Verläumdung zurück¬
weisen zu können. Nimmt der politische Umschwung in Deutschland den Ber-
^us. den man jetzt zu erwarten Ursache hat, so wird der nivellirende Gegner


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[0403] Umstand einen Begriff, daß diese Konvertiten sich heimlich in den lutherischen Kirchen zur Communion einschleichen, was sie „sich das Abendmahl stehlen gehen" nennen. In vielen Gegenden leben sie lieber in wilder Ehe. als daß sie sich zu dem von den Popen bei der Trauung geforderten Revers bequemten, ihre Kinder griechisch taufen zu lassen. Seltsam lautete die Nachricht, daß Erz. bischof Platon den Armen einer Bauerngemeinde an der Dura aus eignen Mitteln dafür, daß sie den Wunsch zur Rückkehr in die protestantische Kirche nicht ausgesprochen, 300 Rubel geschenkt habe. Ebenso abgeschmackt wie die Klagen der Moskaner Zeitung über die Be¬ drängung der russischen Kirche in Livland und Kurland waren die Fabeln, welche dasselbe Blatt von einer in den baltischen Ländern bestehenden Separatistenver- schwörung seinen Lesern auftischte. Alles Derartige aber wurde überboten von einem Artikel über Livland, den man Mitte vorigen Jahres in den Publicatio¬ nen der bei der moskauer Universität bestehenden Gesellschaft für russische Ge¬ schichte zu lesen bekam. Man genoß da unter Andern folgenden blühenden Unsinn: „Das gegenwärtige Jahrhundert hat Livland beträchtlich von Rußland entfernt. Der Grund davon war die Begründung der Universität Dorpat nach deutschem Rechte. Die heutige Generation der Livländer, die aus Studenten jener Universität besteht, hat eine Corporation mit dem Rainen „Jung Livland" gegründet. Sie haben sich über das ganze Land verbreitet, und jeder von ihnen eifert in seinem Kreise gegen Rußland. Der Adel lärmt auf den Landtagen, Andre thun desgleichen in Volksversammlungen und treten nicht in den Staats¬ dienst. Dieses Jung-Livland wird zu seinem Gebühren vermuthlich von Herrn- hutern, Pietisten und Muckern angeregt und unterstützt. Die letztern haben in Königsberg ihr Nest und haben sich von dort über ganz Deutschland und die Ostseeprovinzen verbreitet. Die preußische Regierung aber hat sie entdeckt und verfolgt sie." Wie muß es mit dem wissenschaftlichen Ernst der gelehrten Kör¬ perschaft bestellt sein, deren Annalen sür Avsmdidäten dieser Sorte Platz haben "ut in zwei Bänden nicht weniger als vier auf Livland bezügliche Aufsätze ver¬ wandten Charakters bringen konnten? Und wenn das am grünen Holz der Moskaner Wissenschaft geschieht, was soll man vom dürren Holz der dortigen Journalistik erwarten? Preußen und die Deutschen überhaupt mögen bei Seiten die Gefahren erkenne», welche ihnen von Osten her drohen, sobald die immer mächtiger ihr Haupt erhebende katkvffsche oder jungrussische Partei ein¬ mal an das Staatsruder gelangt. Die Deutschen in den Ostseeprovinzen aber werden wohl thun, sich mit den Reformen, zu welchen sie sich endlich entschlos¬ sn haben, zu beeilen; denn nur durch raschen Fortschritt werden sie zu rechter Zeit in den Stand gelangen, alle Angriffe der Gegner als Verläumdung zurück¬ weisen zu können. Nimmt der politische Umschwung in Deutschland den Ber- ^us. den man jetzt zu erwarten Ursache hat, so wird der nivellirende Gegner 4^

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_284469/403>, abgerufen am 29.06.2024.