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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. I. Band.

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den baltischen Gelehrtenschulen das Russische vernachlässigt würde, und die daran
geknüpfte Erwartung, man werde in Riga und Neval Gymnasien mit russischer
Unterrichtssprache errichten. Gleichermaßen thöricht war die Behauptung des
Blattes, die baltischen Deutschen bedrückten die russische Kirche und ihre Bekenner.
Die Beschuldigung, daß die deutschen Gutsbesitzer ihre lettischen und esthnischen
Bauern griechischer Confession durch eigenmächtige Kündigungen und Arbeits¬
entziehungen benachtheiligt, wurde durch amtliche Untersuchung glänzend wider¬
legt, und wen" im vorigen Sommer el" griechischer Archimandrit in Dorpat einen
Bericht veröffentlichte, nach welchem die Kirchen seines Bezirks ungenügend seien,
weil sie nicht Raum für die "Andersgläubigen" hätten, welche an hohen Fest¬
tagen hier ihre Andacht verrichten möchten, wenn die Moskaner Zeitung für
Hebung des griechischen Cultus in Kur-, Liv- und Esthland collectirt, weil der¬
selbe auf elende Hütten augewiesen sei, wenn dasselbe Blatt die Deutschen für
den Nichtbesuch der Kirche seitens der griechischen Esthen und Letten verant¬
wortlich macht, so erweist sich das gerade Gegentheil ihrer Behauptungen als
richtig. Es ist eine bekannte Thatsache, daß namentlich in Livland die hier
vor erst zwanzig Jahren importirte morgenländische Konfession verhältnißmäßig
mehr wie drei Mal so viele und in vielen Fälle" schönere Kirchen hat. als die
lutherische Confessio", die seit drei Jahrhunderten im Lande ist, und der 86 Pro¬
cent der Bevölkerung angehören. Andrerseits ist erst im Mai vorigen Jahres
durch das Gutachten des russischen Erzbischofs Platon in Riga bewiesen worden,
daß die große Mehrheit der t30.000 lettischen und esthnischen Convertiten,
Welche 1845 zur russische" Kirche übertraten (beiläufig keineswegs freiwillig) sehr
gern zum Protestantismus zurückkehren würden, wenn dies nicht mit Strafe
bedroht wäre, und schließlich ist es erklärlich genug, wenn diese verschwindend
kleine griechische Minorität schon deshalb ihrer Kirche den Rücken kehrt und
großenteils nach wie vor am protestantischen Gottesdienst theilnimmt, weil sie
eben kein Russisch versteht. Auf der Rundreise, auf welcher jener Erzbischof
das Material zu seinem Gutachten sammelte, wurden wenig erfreuliche Zeichen
der Glaubenstreue der griechischen Letten und Esthen bemerkt. Geschickt wußte
man das Verlangen nach Befreiung aus dem Glaubenszwange durch allerlei
Fragen nach den wirthschaftlichen Sorge" der Bauern in den Hintergrund zu
dränge". Man fragte nach ihren Abgaben, ihren Rechten, nach etwaigen
Wünschen und Klagen und nicht ohne Erfolg; denn wer wünschte und klagte
nicht, wenn ein Gönner ihn dazu auffordert. Der häufigst gehörte Wunsch
aber war: "Wir wollen in unserm Glauben freikommen!" Ein Pope, welcher
seiner Gemeinde die Vorzüge der heiligen orthodoxen Kirche vor dem Luther-
thum auseinandersetzen wollte, wurde mit' Anstimmung des Liedes "Eine feste
Burg", in welches die ganze Versammlung einfiel, zum Tempel hinausgesungen.
Welche Demoralisation der griechische Zwang im Gefolge hat, davon giebt der


den baltischen Gelehrtenschulen das Russische vernachlässigt würde, und die daran
geknüpfte Erwartung, man werde in Riga und Neval Gymnasien mit russischer
Unterrichtssprache errichten. Gleichermaßen thöricht war die Behauptung des
Blattes, die baltischen Deutschen bedrückten die russische Kirche und ihre Bekenner.
Die Beschuldigung, daß die deutschen Gutsbesitzer ihre lettischen und esthnischen
Bauern griechischer Confession durch eigenmächtige Kündigungen und Arbeits¬
entziehungen benachtheiligt, wurde durch amtliche Untersuchung glänzend wider¬
legt, und wen» im vorigen Sommer el» griechischer Archimandrit in Dorpat einen
Bericht veröffentlichte, nach welchem die Kirchen seines Bezirks ungenügend seien,
weil sie nicht Raum für die „Andersgläubigen" hätten, welche an hohen Fest¬
tagen hier ihre Andacht verrichten möchten, wenn die Moskaner Zeitung für
Hebung des griechischen Cultus in Kur-, Liv- und Esthland collectirt, weil der¬
selbe auf elende Hütten augewiesen sei, wenn dasselbe Blatt die Deutschen für
den Nichtbesuch der Kirche seitens der griechischen Esthen und Letten verant¬
wortlich macht, so erweist sich das gerade Gegentheil ihrer Behauptungen als
richtig. Es ist eine bekannte Thatsache, daß namentlich in Livland die hier
vor erst zwanzig Jahren importirte morgenländische Konfession verhältnißmäßig
mehr wie drei Mal so viele und in vielen Fälle» schönere Kirchen hat. als die
lutherische Confessio», die seit drei Jahrhunderten im Lande ist, und der 86 Pro¬
cent der Bevölkerung angehören. Andrerseits ist erst im Mai vorigen Jahres
durch das Gutachten des russischen Erzbischofs Platon in Riga bewiesen worden,
daß die große Mehrheit der t30.000 lettischen und esthnischen Convertiten,
Welche 1845 zur russische» Kirche übertraten (beiläufig keineswegs freiwillig) sehr
gern zum Protestantismus zurückkehren würden, wenn dies nicht mit Strafe
bedroht wäre, und schließlich ist es erklärlich genug, wenn diese verschwindend
kleine griechische Minorität schon deshalb ihrer Kirche den Rücken kehrt und
großenteils nach wie vor am protestantischen Gottesdienst theilnimmt, weil sie
eben kein Russisch versteht. Auf der Rundreise, auf welcher jener Erzbischof
das Material zu seinem Gutachten sammelte, wurden wenig erfreuliche Zeichen
der Glaubenstreue der griechischen Letten und Esthen bemerkt. Geschickt wußte
man das Verlangen nach Befreiung aus dem Glaubenszwange durch allerlei
Fragen nach den wirthschaftlichen Sorge» der Bauern in den Hintergrund zu
dränge». Man fragte nach ihren Abgaben, ihren Rechten, nach etwaigen
Wünschen und Klagen und nicht ohne Erfolg; denn wer wünschte und klagte
nicht, wenn ein Gönner ihn dazu auffordert. Der häufigst gehörte Wunsch
aber war: „Wir wollen in unserm Glauben freikommen!" Ein Pope, welcher
seiner Gemeinde die Vorzüge der heiligen orthodoxen Kirche vor dem Luther-
thum auseinandersetzen wollte, wurde mit' Anstimmung des Liedes „Eine feste
Burg", in welches die ganze Versammlung einfiel, zum Tempel hinausgesungen.
Welche Demoralisation der griechische Zwang im Gefolge hat, davon giebt der


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[0402] den baltischen Gelehrtenschulen das Russische vernachlässigt würde, und die daran geknüpfte Erwartung, man werde in Riga und Neval Gymnasien mit russischer Unterrichtssprache errichten. Gleichermaßen thöricht war die Behauptung des Blattes, die baltischen Deutschen bedrückten die russische Kirche und ihre Bekenner. Die Beschuldigung, daß die deutschen Gutsbesitzer ihre lettischen und esthnischen Bauern griechischer Confession durch eigenmächtige Kündigungen und Arbeits¬ entziehungen benachtheiligt, wurde durch amtliche Untersuchung glänzend wider¬ legt, und wen» im vorigen Sommer el» griechischer Archimandrit in Dorpat einen Bericht veröffentlichte, nach welchem die Kirchen seines Bezirks ungenügend seien, weil sie nicht Raum für die „Andersgläubigen" hätten, welche an hohen Fest¬ tagen hier ihre Andacht verrichten möchten, wenn die Moskaner Zeitung für Hebung des griechischen Cultus in Kur-, Liv- und Esthland collectirt, weil der¬ selbe auf elende Hütten augewiesen sei, wenn dasselbe Blatt die Deutschen für den Nichtbesuch der Kirche seitens der griechischen Esthen und Letten verant¬ wortlich macht, so erweist sich das gerade Gegentheil ihrer Behauptungen als richtig. Es ist eine bekannte Thatsache, daß namentlich in Livland die hier vor erst zwanzig Jahren importirte morgenländische Konfession verhältnißmäßig mehr wie drei Mal so viele und in vielen Fälle» schönere Kirchen hat. als die lutherische Confessio», die seit drei Jahrhunderten im Lande ist, und der 86 Pro¬ cent der Bevölkerung angehören. Andrerseits ist erst im Mai vorigen Jahres durch das Gutachten des russischen Erzbischofs Platon in Riga bewiesen worden, daß die große Mehrheit der t30.000 lettischen und esthnischen Convertiten, Welche 1845 zur russische» Kirche übertraten (beiläufig keineswegs freiwillig) sehr gern zum Protestantismus zurückkehren würden, wenn dies nicht mit Strafe bedroht wäre, und schließlich ist es erklärlich genug, wenn diese verschwindend kleine griechische Minorität schon deshalb ihrer Kirche den Rücken kehrt und großenteils nach wie vor am protestantischen Gottesdienst theilnimmt, weil sie eben kein Russisch versteht. Auf der Rundreise, auf welcher jener Erzbischof das Material zu seinem Gutachten sammelte, wurden wenig erfreuliche Zeichen der Glaubenstreue der griechischen Letten und Esthen bemerkt. Geschickt wußte man das Verlangen nach Befreiung aus dem Glaubenszwange durch allerlei Fragen nach den wirthschaftlichen Sorge» der Bauern in den Hintergrund zu dränge». Man fragte nach ihren Abgaben, ihren Rechten, nach etwaigen Wünschen und Klagen und nicht ohne Erfolg; denn wer wünschte und klagte nicht, wenn ein Gönner ihn dazu auffordert. Der häufigst gehörte Wunsch aber war: „Wir wollen in unserm Glauben freikommen!" Ein Pope, welcher seiner Gemeinde die Vorzüge der heiligen orthodoxen Kirche vor dem Luther- thum auseinandersetzen wollte, wurde mit' Anstimmung des Liedes „Eine feste Burg", in welches die ganze Versammlung einfiel, zum Tempel hinausgesungen. Welche Demoralisation der griechische Zwang im Gefolge hat, davon giebt der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_284469/402>, abgerufen am 29.06.2024.