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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. I. Band.

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historische Volksgesang bis nach Erfindung der Buchdruckerkunst; es war nicht
mehr der mächtige Eichwald alter Sagenkunde, nur niedriges Strauchwerk, das
aus den gefallenen Blättern der Heldenpoesie herauswuchs, aber es grünte lustig,
und der Bauer wie der Burgherr trug das junge Reis mit Selbstgefühl an
seiner Mütze.

Als der Bücherdruck in die Welt kam, die größte Entdeckung seit Erfindung
der Buchstabenschrift, erfuhr auch das politische Lied eine Umwandlung. Noch
immer klang es von Mund zu Ohr; es begleitete noch die Siege Luthers, die
Kämpfe Karls gegen die deutschen Kurfürsten; es summte um die Wachtfeuer
jedes Söldnerlagers im dreißigjährigen Kriege, ja es hat seine letzten spärlichen
Sprossen noch in den gewordenen Herren des vorigen Jahrhunderts, in den
Zunftstuben der gedrückten Handwerker und unter der Dorfhütte der vielge¬
plagten Bauern bis zum Einbruch der modernen Bildung getrieben. Aber daneben
kam seit dem sechzehnten Jahrhundert eine ändere volkstümliche Art politischer
Poesie auf, die fliegenden Blätter und gedruckten Büchlein, Jetzt bot der Buch¬
binder die Lieder auf dem Markte feil; der Landmann trug sie in der Tasche zu
seiner Hütte und der Postbote in das Herrenschloß. Diese politischen Druckstücke
sind nicht sämmtlich für Gesang berechnet, sie werden häusig von lateinisch ge¬
schulten Männern versaßt und laufen in erzählenden Versen mit biblischen Sen¬
tenzen und breiter Spruchweisheit verziert. Es ist eine Zeit starker geistiger
Gegensätze; die Feder ist mächtig geworden, und zornig sträubt sich ihr Bart
gegen die Feinde. Deshalb sind diese fliegenden Druckbogen häusig Kampf¬
und Spottverse, Pasquille und Stachelreden. Auch sie sind noch eine beliebte
Waffe der Kämpfenden; wer sie nicht selbst verfassen kann, läßt sie von einem
Schreiber anfertigen und sendet sie in die Welt, sich Theilnahme zu erwerben
und einen Gegner zu kränken. In solcher Weise dauert politisches Lied und
politischer Vers in Deutschland bis in die zweite Hälfte des dreißigjährigen
Krieges, wo fast alles im Lande klein und schwach wird.

Seit längerer Zeit hat unsere Wissenschaft diesen Liedern Beachtung ge¬
gönnt. Außer dem trefflichen Werke Uhlands, welches auch die schönsten
historischen Volkslieder des Mittelalters enthält, haben wir besondere Samm¬
lungen von Wolf (1830). v. Soltau (1836). Körner (1840), Hildebrand (1836).
außerdem Sammlungen für einzelne Zeiträume z. B. für den dreißigjährigen
Krieg durch Scheible (1850). Weller (18S5). Opel und Cohn (1864),
dazu sehr vieles in historischen Vereinswerfen, Zeitschriften und Einzel¬
drucken. Manches ist auch nach Landschaften geordnet, z. B. die schönen schweizer
Schlachtlieder in einer leider nicht mehr genügenden Ausgabe von Ettmüller.
Dennoch war eine möglichst vollständige Zusammenstellung, zumal der ältesten
historischen Volkslieder bis an die Zeit gedruckter Buchstaben sehr wünschenswert!);
denn grade die älteren Lieder haben für Poesie und Culturgeschichte, aber auch


historische Volksgesang bis nach Erfindung der Buchdruckerkunst; es war nicht
mehr der mächtige Eichwald alter Sagenkunde, nur niedriges Strauchwerk, das
aus den gefallenen Blättern der Heldenpoesie herauswuchs, aber es grünte lustig,
und der Bauer wie der Burgherr trug das junge Reis mit Selbstgefühl an
seiner Mütze.

Als der Bücherdruck in die Welt kam, die größte Entdeckung seit Erfindung
der Buchstabenschrift, erfuhr auch das politische Lied eine Umwandlung. Noch
immer klang es von Mund zu Ohr; es begleitete noch die Siege Luthers, die
Kämpfe Karls gegen die deutschen Kurfürsten; es summte um die Wachtfeuer
jedes Söldnerlagers im dreißigjährigen Kriege, ja es hat seine letzten spärlichen
Sprossen noch in den gewordenen Herren des vorigen Jahrhunderts, in den
Zunftstuben der gedrückten Handwerker und unter der Dorfhütte der vielge¬
plagten Bauern bis zum Einbruch der modernen Bildung getrieben. Aber daneben
kam seit dem sechzehnten Jahrhundert eine ändere volkstümliche Art politischer
Poesie auf, die fliegenden Blätter und gedruckten Büchlein, Jetzt bot der Buch¬
binder die Lieder auf dem Markte feil; der Landmann trug sie in der Tasche zu
seiner Hütte und der Postbote in das Herrenschloß. Diese politischen Druckstücke
sind nicht sämmtlich für Gesang berechnet, sie werden häusig von lateinisch ge¬
schulten Männern versaßt und laufen in erzählenden Versen mit biblischen Sen¬
tenzen und breiter Spruchweisheit verziert. Es ist eine Zeit starker geistiger
Gegensätze; die Feder ist mächtig geworden, und zornig sträubt sich ihr Bart
gegen die Feinde. Deshalb sind diese fliegenden Druckbogen häusig Kampf¬
und Spottverse, Pasquille und Stachelreden. Auch sie sind noch eine beliebte
Waffe der Kämpfenden; wer sie nicht selbst verfassen kann, läßt sie von einem
Schreiber anfertigen und sendet sie in die Welt, sich Theilnahme zu erwerben
und einen Gegner zu kränken. In solcher Weise dauert politisches Lied und
politischer Vers in Deutschland bis in die zweite Hälfte des dreißigjährigen
Krieges, wo fast alles im Lande klein und schwach wird.

Seit längerer Zeit hat unsere Wissenschaft diesen Liedern Beachtung ge¬
gönnt. Außer dem trefflichen Werke Uhlands, welches auch die schönsten
historischen Volkslieder des Mittelalters enthält, haben wir besondere Samm¬
lungen von Wolf (1830). v. Soltau (1836). Körner (1840), Hildebrand (1836).
außerdem Sammlungen für einzelne Zeiträume z. B. für den dreißigjährigen
Krieg durch Scheible (1850). Weller (18S5). Opel und Cohn (1864),
dazu sehr vieles in historischen Vereinswerfen, Zeitschriften und Einzel¬
drucken. Manches ist auch nach Landschaften geordnet, z. B. die schönen schweizer
Schlachtlieder in einer leider nicht mehr genügenden Ausgabe von Ettmüller.
Dennoch war eine möglichst vollständige Zusammenstellung, zumal der ältesten
historischen Volkslieder bis an die Zeit gedruckter Buchstaben sehr wünschenswert!);
denn grade die älteren Lieder haben für Poesie und Culturgeschichte, aber auch


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[0038] historische Volksgesang bis nach Erfindung der Buchdruckerkunst; es war nicht mehr der mächtige Eichwald alter Sagenkunde, nur niedriges Strauchwerk, das aus den gefallenen Blättern der Heldenpoesie herauswuchs, aber es grünte lustig, und der Bauer wie der Burgherr trug das junge Reis mit Selbstgefühl an seiner Mütze. Als der Bücherdruck in die Welt kam, die größte Entdeckung seit Erfindung der Buchstabenschrift, erfuhr auch das politische Lied eine Umwandlung. Noch immer klang es von Mund zu Ohr; es begleitete noch die Siege Luthers, die Kämpfe Karls gegen die deutschen Kurfürsten; es summte um die Wachtfeuer jedes Söldnerlagers im dreißigjährigen Kriege, ja es hat seine letzten spärlichen Sprossen noch in den gewordenen Herren des vorigen Jahrhunderts, in den Zunftstuben der gedrückten Handwerker und unter der Dorfhütte der vielge¬ plagten Bauern bis zum Einbruch der modernen Bildung getrieben. Aber daneben kam seit dem sechzehnten Jahrhundert eine ändere volkstümliche Art politischer Poesie auf, die fliegenden Blätter und gedruckten Büchlein, Jetzt bot der Buch¬ binder die Lieder auf dem Markte feil; der Landmann trug sie in der Tasche zu seiner Hütte und der Postbote in das Herrenschloß. Diese politischen Druckstücke sind nicht sämmtlich für Gesang berechnet, sie werden häusig von lateinisch ge¬ schulten Männern versaßt und laufen in erzählenden Versen mit biblischen Sen¬ tenzen und breiter Spruchweisheit verziert. Es ist eine Zeit starker geistiger Gegensätze; die Feder ist mächtig geworden, und zornig sträubt sich ihr Bart gegen die Feinde. Deshalb sind diese fliegenden Druckbogen häusig Kampf¬ und Spottverse, Pasquille und Stachelreden. Auch sie sind noch eine beliebte Waffe der Kämpfenden; wer sie nicht selbst verfassen kann, läßt sie von einem Schreiber anfertigen und sendet sie in die Welt, sich Theilnahme zu erwerben und einen Gegner zu kränken. In solcher Weise dauert politisches Lied und politischer Vers in Deutschland bis in die zweite Hälfte des dreißigjährigen Krieges, wo fast alles im Lande klein und schwach wird. Seit längerer Zeit hat unsere Wissenschaft diesen Liedern Beachtung ge¬ gönnt. Außer dem trefflichen Werke Uhlands, welches auch die schönsten historischen Volkslieder des Mittelalters enthält, haben wir besondere Samm¬ lungen von Wolf (1830). v. Soltau (1836). Körner (1840), Hildebrand (1836). außerdem Sammlungen für einzelne Zeiträume z. B. für den dreißigjährigen Krieg durch Scheible (1850). Weller (18S5). Opel und Cohn (1864), dazu sehr vieles in historischen Vereinswerfen, Zeitschriften und Einzel¬ drucken. Manches ist auch nach Landschaften geordnet, z. B. die schönen schweizer Schlachtlieder in einer leider nicht mehr genügenden Ausgabe von Ettmüller. Dennoch war eine möglichst vollständige Zusammenstellung, zumal der ältesten historischen Volkslieder bis an die Zeit gedruckter Buchstaben sehr wünschenswert!); denn grade die älteren Lieder haben für Poesie und Culturgeschichte, aber auch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_284469/38>, abgerufen am 29.06.2024.