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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. I. Band.

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bat. den Hut in der Hand, um Einlaß, und fröhlich Verzog sich das Antlitz
der frommen Brüder, wenn der bunte Vogel, den vielleicht ein Weiblein be¬
gleitete, an der heiligen Pforte in die Saiten griff. Aber die großen Herren
der Kirche waren diesem Volksgesang nicht geneigt. Sie merkten wohl,
daß viel Heidenglaube daran hing, auch der wilde Geist des Kampfes und der
Rache war ihnen zuwider, und die Eifriger suchten den Einfluß der Sänger
zu beschränken. Durch das Christenthum wurde zwar nicht die Neigung, aber
die Pietät des Volkes gegen die alten. Sagen verringert. Vieles wurde unver¬
ständlich, von ganzen Völkern und großen Sagenkreisen schwand die Erinnerung,
um einige große Heldenbilder und erschütternde Schicksale schlössen sich im zehnten
bis zwölften Jahrhundert die erhaltenen Trümmer der alten epischen Sage.
Als nun eine neue poetische Bildung in der Hohenstaufenzeit kam, da ordnete
und formte sie noch einmal mit neuer Kunst den poetischen Rest aus Mythe
und Sage xu größeren Gedichten, welche jetzt auch aus dem Munde der Sänger
niedergeschrieben wurden.

Aber nicht nur die alten Erinnerungen aus den Jahrhunderten der Völker¬
wanderung dauerten im Mittelalter sort. Auch am Neuen regte sich kräftig die
poetische Gestaltungskraft des Volkes. Jede merkwürdige Geschichte, jedes poli¬
tische Ereignis; trieb neue Lieder hervor. Das Veilager eines Fürsten, eine
Schlacht, die Eroberung einer Stadt oder Burg, feindlicher Ueberfall, der Unter¬
gang eines kriegstüchtigen Herrn, die hohe Zeit eines Königsfestes fanden überall
Sänger, welche die Kunde davon von Markt zu Markt, bis zu den Heerdfeuern
entfernter Landschaften trugen. Diese Zeitlieder wurden gedichtet im alten volks¬
tümlichen Maße, oder nach der Weise eines Kirchenliedes oder eines Reihen-
tanz-es, oder der Sänger erfand ihnen eigene Weisen. Durch das ganze Mit-
telalter erklangen diese kleinen historischen Lieder sehr reichlich, überall zur
Freude und Erhebung des Volkes. Nur weniges davon ist erhalten. Es reicht
kaum aus, um uns eine Vorstellung von der Bedeutung zu geben, die der
historische Volksgesang für das Gemüth der Hörer hatte. Aber aus gelegent¬
lichen Bemerkungen der Chronisten sehen wir, wie allgemein der Antheil, wie
groß die Wirkung und wie massenhaft die Production war.

Seit die Städte sich kräftig hoben, und die Chroniken in deutscher Sprache
geschrieben wurden, schrieb man häufiger die historischen Lieder auf das Papier.
Auch der Bürger in seinem geschützten Hause übte die Sangeskunst. Durch Lie¬
der höhnte er die politischen Gegner, feierte er die Siege seiner Stadt, beklagte
er das Unheil, welches volksthümliche Gestalten seiner Landschaft betraf. Ihnen
lauschten die Leute an der Marktecke, sie wurden von Handwerkern am Wachtfeuer
vor einer zerstörten Raubburg gedichtet und frischweg gesungen. Der Spielmann,
der wandernde Handwerksgesell, der fahrende Schüler, der reisende Söldner ver¬
breitete die Erfindung einer Stadt und Burg in die andere. So wucherte der


bat. den Hut in der Hand, um Einlaß, und fröhlich Verzog sich das Antlitz
der frommen Brüder, wenn der bunte Vogel, den vielleicht ein Weiblein be¬
gleitete, an der heiligen Pforte in die Saiten griff. Aber die großen Herren
der Kirche waren diesem Volksgesang nicht geneigt. Sie merkten wohl,
daß viel Heidenglaube daran hing, auch der wilde Geist des Kampfes und der
Rache war ihnen zuwider, und die Eifriger suchten den Einfluß der Sänger
zu beschränken. Durch das Christenthum wurde zwar nicht die Neigung, aber
die Pietät des Volkes gegen die alten. Sagen verringert. Vieles wurde unver¬
ständlich, von ganzen Völkern und großen Sagenkreisen schwand die Erinnerung,
um einige große Heldenbilder und erschütternde Schicksale schlössen sich im zehnten
bis zwölften Jahrhundert die erhaltenen Trümmer der alten epischen Sage.
Als nun eine neue poetische Bildung in der Hohenstaufenzeit kam, da ordnete
und formte sie noch einmal mit neuer Kunst den poetischen Rest aus Mythe
und Sage xu größeren Gedichten, welche jetzt auch aus dem Munde der Sänger
niedergeschrieben wurden.

Aber nicht nur die alten Erinnerungen aus den Jahrhunderten der Völker¬
wanderung dauerten im Mittelalter sort. Auch am Neuen regte sich kräftig die
poetische Gestaltungskraft des Volkes. Jede merkwürdige Geschichte, jedes poli¬
tische Ereignis; trieb neue Lieder hervor. Das Veilager eines Fürsten, eine
Schlacht, die Eroberung einer Stadt oder Burg, feindlicher Ueberfall, der Unter¬
gang eines kriegstüchtigen Herrn, die hohe Zeit eines Königsfestes fanden überall
Sänger, welche die Kunde davon von Markt zu Markt, bis zu den Heerdfeuern
entfernter Landschaften trugen. Diese Zeitlieder wurden gedichtet im alten volks¬
tümlichen Maße, oder nach der Weise eines Kirchenliedes oder eines Reihen-
tanz-es, oder der Sänger erfand ihnen eigene Weisen. Durch das ganze Mit-
telalter erklangen diese kleinen historischen Lieder sehr reichlich, überall zur
Freude und Erhebung des Volkes. Nur weniges davon ist erhalten. Es reicht
kaum aus, um uns eine Vorstellung von der Bedeutung zu geben, die der
historische Volksgesang für das Gemüth der Hörer hatte. Aber aus gelegent¬
lichen Bemerkungen der Chronisten sehen wir, wie allgemein der Antheil, wie
groß die Wirkung und wie massenhaft die Production war.

Seit die Städte sich kräftig hoben, und die Chroniken in deutscher Sprache
geschrieben wurden, schrieb man häufiger die historischen Lieder auf das Papier.
Auch der Bürger in seinem geschützten Hause übte die Sangeskunst. Durch Lie¬
der höhnte er die politischen Gegner, feierte er die Siege seiner Stadt, beklagte
er das Unheil, welches volksthümliche Gestalten seiner Landschaft betraf. Ihnen
lauschten die Leute an der Marktecke, sie wurden von Handwerkern am Wachtfeuer
vor einer zerstörten Raubburg gedichtet und frischweg gesungen. Der Spielmann,
der wandernde Handwerksgesell, der fahrende Schüler, der reisende Söldner ver¬
breitete die Erfindung einer Stadt und Burg in die andere. So wucherte der


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[0037] bat. den Hut in der Hand, um Einlaß, und fröhlich Verzog sich das Antlitz der frommen Brüder, wenn der bunte Vogel, den vielleicht ein Weiblein be¬ gleitete, an der heiligen Pforte in die Saiten griff. Aber die großen Herren der Kirche waren diesem Volksgesang nicht geneigt. Sie merkten wohl, daß viel Heidenglaube daran hing, auch der wilde Geist des Kampfes und der Rache war ihnen zuwider, und die Eifriger suchten den Einfluß der Sänger zu beschränken. Durch das Christenthum wurde zwar nicht die Neigung, aber die Pietät des Volkes gegen die alten. Sagen verringert. Vieles wurde unver¬ ständlich, von ganzen Völkern und großen Sagenkreisen schwand die Erinnerung, um einige große Heldenbilder und erschütternde Schicksale schlössen sich im zehnten bis zwölften Jahrhundert die erhaltenen Trümmer der alten epischen Sage. Als nun eine neue poetische Bildung in der Hohenstaufenzeit kam, da ordnete und formte sie noch einmal mit neuer Kunst den poetischen Rest aus Mythe und Sage xu größeren Gedichten, welche jetzt auch aus dem Munde der Sänger niedergeschrieben wurden. Aber nicht nur die alten Erinnerungen aus den Jahrhunderten der Völker¬ wanderung dauerten im Mittelalter sort. Auch am Neuen regte sich kräftig die poetische Gestaltungskraft des Volkes. Jede merkwürdige Geschichte, jedes poli¬ tische Ereignis; trieb neue Lieder hervor. Das Veilager eines Fürsten, eine Schlacht, die Eroberung einer Stadt oder Burg, feindlicher Ueberfall, der Unter¬ gang eines kriegstüchtigen Herrn, die hohe Zeit eines Königsfestes fanden überall Sänger, welche die Kunde davon von Markt zu Markt, bis zu den Heerdfeuern entfernter Landschaften trugen. Diese Zeitlieder wurden gedichtet im alten volks¬ tümlichen Maße, oder nach der Weise eines Kirchenliedes oder eines Reihen- tanz-es, oder der Sänger erfand ihnen eigene Weisen. Durch das ganze Mit- telalter erklangen diese kleinen historischen Lieder sehr reichlich, überall zur Freude und Erhebung des Volkes. Nur weniges davon ist erhalten. Es reicht kaum aus, um uns eine Vorstellung von der Bedeutung zu geben, die der historische Volksgesang für das Gemüth der Hörer hatte. Aber aus gelegent¬ lichen Bemerkungen der Chronisten sehen wir, wie allgemein der Antheil, wie groß die Wirkung und wie massenhaft die Production war. Seit die Städte sich kräftig hoben, und die Chroniken in deutscher Sprache geschrieben wurden, schrieb man häufiger die historischen Lieder auf das Papier. Auch der Bürger in seinem geschützten Hause übte die Sangeskunst. Durch Lie¬ der höhnte er die politischen Gegner, feierte er die Siege seiner Stadt, beklagte er das Unheil, welches volksthümliche Gestalten seiner Landschaft betraf. Ihnen lauschten die Leute an der Marktecke, sie wurden von Handwerkern am Wachtfeuer vor einer zerstörten Raubburg gedichtet und frischweg gesungen. Der Spielmann, der wandernde Handwerksgesell, der fahrende Schüler, der reisende Söldner ver¬ breitete die Erfindung einer Stadt und Burg in die andere. So wucherte der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_284469/37>, abgerufen am 26.06.2024.