Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

für sich in Anspruch nehmen Aber dieselben Gründe der Zweckmäßigkeit,
welche eine Modification der ungarischen Gesetzgebung von 1848 erheischen,
fordern auch eine Abänderung der 1848er Gesetze in den deutsch-slavischen
Erbländer.

Aber nicht blos die Rechtsfrage, auch die praktische Frage der Constitui-
rung findet in dem kremsterer Verfassungsentwurf, wenn man gewisse Bestim¬
mungen desselben, welche das Gepräge jener stürmisch erregten Zeit tragen, hin¬
wegdenkt, ihre glückliche Lösung, wie man aus der Denkschrift selbst S. 46
bis 49 ersehen wolle. Es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß eine Re¬
vision der Februarverfassung zunächst die Reichsvertrctung auf jene richtigen
Principiellen Grundlagen zurückführen muß, welche im kremsterer Entwurf und,
einigermaßen abgeschwächt, in der Märzverfassung von 1849 enthalten sind.
Der Reichstag, bestehend aus einer Länderkammer (Oberhaus, Senat) und
einer Volkskammer (Unterhaus, Abgeordnetenhaus) müßte wieder auf der Grund¬
lage der im kremsterer Entwürfe vorgezeichneten natürlichen Organisation ge¬
bildet werden, doch würde eine Modification in -der Zusammensetzung der
Länderkammer dahin eintreten können, daß die Zwecke, welche 1861 durch Bil¬
dung eines besondern Herrenhauses verwirklicht werden sollten, auch hier Be¬
rücksichtigung erfahren.

Die Gefahren, welche der Dualismus für den Fortbestand der Monarchie
in sich birgt, werden vom Verfasser nicht verkannt, und er giebt ferner zu, daß
die von ihm befürwortete Union sie nicht ganz beseitigt, da die Möglichkeit
eines prinzipiellen Zwiespalts zwischen den beiden Reichstagen bestehen bleibt
und politische Verhältnisse eintreten können, wo selbst die parlamentarische
Regierungsweise durch den festen Widerstand des einen der beiden in einer
wichtigen Frage empfindlich gestört werden kann. Aber mit vollem Recht be¬
hauptet unsre Schrift, daß jede andere Lösung der Verfassungsfrage weit größere
Gefahren in sich birgt. .Angenommen," sagt sie, "daß eine einheitliche Reichs-
Vertretung der Gesammtmonarchie heute mittelst der konstitutionellen Centrali¬
sation zu erlangen wäre, so würden die Deutschen unläugbar sich den Vertretern
sämmtlicher andern Nationen gegenüber in einer bedeutend kleinen Minorität befinden,
ungefähr wie hundert gegen zweihundertfunfzig Stimmni. In jeder allgemeinen
Frage, wo es sich um ein nationales Interesse, um die autonome Stellung
der einzelnen Länder und Stämme handeln würde, könnte man gewiß sein,
daß die deutsche Partei und die centralistische Richtung vollständig unterliegen
müßte. Der Kampf, welchen die Nationalitäten bisher im ganzen Reiche in
einzelnen Gruppen geführt haben, würde im Gesammtreichsrathe einen legalen
Boden und eine compacte Widerstandskraft erhalten, und wir müssen gegründete
Zweifel hegen, ob dieser Gesammtreichsrath auch nur eine einzige Session zu
durchleben sähig wäre." "Jedenfalls steht so viel fest, daß in einem östreichischen


für sich in Anspruch nehmen Aber dieselben Gründe der Zweckmäßigkeit,
welche eine Modification der ungarischen Gesetzgebung von 1848 erheischen,
fordern auch eine Abänderung der 1848er Gesetze in den deutsch-slavischen
Erbländer.

Aber nicht blos die Rechtsfrage, auch die praktische Frage der Constitui-
rung findet in dem kremsterer Verfassungsentwurf, wenn man gewisse Bestim¬
mungen desselben, welche das Gepräge jener stürmisch erregten Zeit tragen, hin¬
wegdenkt, ihre glückliche Lösung, wie man aus der Denkschrift selbst S. 46
bis 49 ersehen wolle. Es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß eine Re¬
vision der Februarverfassung zunächst die Reichsvertrctung auf jene richtigen
Principiellen Grundlagen zurückführen muß, welche im kremsterer Entwurf und,
einigermaßen abgeschwächt, in der Märzverfassung von 1849 enthalten sind.
Der Reichstag, bestehend aus einer Länderkammer (Oberhaus, Senat) und
einer Volkskammer (Unterhaus, Abgeordnetenhaus) müßte wieder auf der Grund¬
lage der im kremsterer Entwürfe vorgezeichneten natürlichen Organisation ge¬
bildet werden, doch würde eine Modification in -der Zusammensetzung der
Länderkammer dahin eintreten können, daß die Zwecke, welche 1861 durch Bil¬
dung eines besondern Herrenhauses verwirklicht werden sollten, auch hier Be¬
rücksichtigung erfahren.

Die Gefahren, welche der Dualismus für den Fortbestand der Monarchie
in sich birgt, werden vom Verfasser nicht verkannt, und er giebt ferner zu, daß
die von ihm befürwortete Union sie nicht ganz beseitigt, da die Möglichkeit
eines prinzipiellen Zwiespalts zwischen den beiden Reichstagen bestehen bleibt
und politische Verhältnisse eintreten können, wo selbst die parlamentarische
Regierungsweise durch den festen Widerstand des einen der beiden in einer
wichtigen Frage empfindlich gestört werden kann. Aber mit vollem Recht be¬
hauptet unsre Schrift, daß jede andere Lösung der Verfassungsfrage weit größere
Gefahren in sich birgt. .Angenommen," sagt sie, „daß eine einheitliche Reichs-
Vertretung der Gesammtmonarchie heute mittelst der konstitutionellen Centrali¬
sation zu erlangen wäre, so würden die Deutschen unläugbar sich den Vertretern
sämmtlicher andern Nationen gegenüber in einer bedeutend kleinen Minorität befinden,
ungefähr wie hundert gegen zweihundertfunfzig Stimmni. In jeder allgemeinen
Frage, wo es sich um ein nationales Interesse, um die autonome Stellung
der einzelnen Länder und Stämme handeln würde, könnte man gewiß sein,
daß die deutsche Partei und die centralistische Richtung vollständig unterliegen
müßte. Der Kampf, welchen die Nationalitäten bisher im ganzen Reiche in
einzelnen Gruppen geführt haben, würde im Gesammtreichsrathe einen legalen
Boden und eine compacte Widerstandskraft erhalten, und wir müssen gegründete
Zweifel hegen, ob dieser Gesammtreichsrath auch nur eine einzige Session zu
durchleben sähig wäre." „Jedenfalls steht so viel fest, daß in einem östreichischen


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0350" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/284820"/>
          <p xml:id="ID_1178" prev="#ID_1177"> für sich in Anspruch nehmen Aber dieselben Gründe der Zweckmäßigkeit,<lb/>
welche eine Modification der ungarischen Gesetzgebung von 1848 erheischen,<lb/>
fordern auch eine Abänderung der 1848er Gesetze in den deutsch-slavischen<lb/>
Erbländer.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1179"> Aber nicht blos die Rechtsfrage, auch die praktische Frage der Constitui-<lb/>
rung findet in dem kremsterer Verfassungsentwurf, wenn man gewisse Bestim¬<lb/>
mungen desselben, welche das Gepräge jener stürmisch erregten Zeit tragen, hin¬<lb/>
wegdenkt, ihre glückliche Lösung, wie man aus der Denkschrift selbst S. 46<lb/>
bis 49 ersehen wolle. Es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß eine Re¬<lb/>
vision der Februarverfassung zunächst die Reichsvertrctung auf jene richtigen<lb/>
Principiellen Grundlagen zurückführen muß, welche im kremsterer Entwurf und,<lb/>
einigermaßen abgeschwächt, in der Märzverfassung von 1849 enthalten sind.<lb/>
Der Reichstag, bestehend aus einer Länderkammer (Oberhaus, Senat) und<lb/>
einer Volkskammer (Unterhaus, Abgeordnetenhaus) müßte wieder auf der Grund¬<lb/>
lage der im kremsterer Entwürfe vorgezeichneten natürlichen Organisation ge¬<lb/>
bildet werden, doch würde eine Modification in -der Zusammensetzung der<lb/>
Länderkammer dahin eintreten können, daß die Zwecke, welche 1861 durch Bil¬<lb/>
dung eines besondern Herrenhauses verwirklicht werden sollten, auch hier Be¬<lb/>
rücksichtigung erfahren.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1180" next="#ID_1181"> Die Gefahren, welche der Dualismus für den Fortbestand der Monarchie<lb/>
in sich birgt, werden vom Verfasser nicht verkannt, und er giebt ferner zu, daß<lb/>
die von ihm befürwortete Union sie nicht ganz beseitigt, da die Möglichkeit<lb/>
eines prinzipiellen Zwiespalts zwischen den beiden Reichstagen bestehen bleibt<lb/>
und politische Verhältnisse eintreten können, wo selbst die parlamentarische<lb/>
Regierungsweise durch den festen Widerstand des einen der beiden in einer<lb/>
wichtigen Frage empfindlich gestört werden kann. Aber mit vollem Recht be¬<lb/>
hauptet unsre Schrift, daß jede andere Lösung der Verfassungsfrage weit größere<lb/>
Gefahren in sich birgt. .Angenommen," sagt sie, &#x201E;daß eine einheitliche Reichs-<lb/>
Vertretung der Gesammtmonarchie heute mittelst der konstitutionellen Centrali¬<lb/>
sation zu erlangen wäre, so würden die Deutschen unläugbar sich den Vertretern<lb/>
sämmtlicher andern Nationen gegenüber in einer bedeutend kleinen Minorität befinden,<lb/>
ungefähr wie hundert gegen zweihundertfunfzig Stimmni. In jeder allgemeinen<lb/>
Frage, wo es sich um ein nationales Interesse, um die autonome Stellung<lb/>
der einzelnen Länder und Stämme handeln würde, könnte man gewiß sein,<lb/>
daß die deutsche Partei und die centralistische Richtung vollständig unterliegen<lb/>
müßte. Der Kampf, welchen die Nationalitäten bisher im ganzen Reiche in<lb/>
einzelnen Gruppen geführt haben, würde im Gesammtreichsrathe einen legalen<lb/>
Boden und eine compacte Widerstandskraft erhalten, und wir müssen gegründete<lb/>
Zweifel hegen, ob dieser Gesammtreichsrath auch nur eine einzige Session zu<lb/>
durchleben sähig wäre." &#x201E;Jedenfalls steht so viel fest, daß in einem östreichischen</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0350] für sich in Anspruch nehmen Aber dieselben Gründe der Zweckmäßigkeit, welche eine Modification der ungarischen Gesetzgebung von 1848 erheischen, fordern auch eine Abänderung der 1848er Gesetze in den deutsch-slavischen Erbländer. Aber nicht blos die Rechtsfrage, auch die praktische Frage der Constitui- rung findet in dem kremsterer Verfassungsentwurf, wenn man gewisse Bestim¬ mungen desselben, welche das Gepräge jener stürmisch erregten Zeit tragen, hin¬ wegdenkt, ihre glückliche Lösung, wie man aus der Denkschrift selbst S. 46 bis 49 ersehen wolle. Es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß eine Re¬ vision der Februarverfassung zunächst die Reichsvertrctung auf jene richtigen Principiellen Grundlagen zurückführen muß, welche im kremsterer Entwurf und, einigermaßen abgeschwächt, in der Märzverfassung von 1849 enthalten sind. Der Reichstag, bestehend aus einer Länderkammer (Oberhaus, Senat) und einer Volkskammer (Unterhaus, Abgeordnetenhaus) müßte wieder auf der Grund¬ lage der im kremsterer Entwürfe vorgezeichneten natürlichen Organisation ge¬ bildet werden, doch würde eine Modification in -der Zusammensetzung der Länderkammer dahin eintreten können, daß die Zwecke, welche 1861 durch Bil¬ dung eines besondern Herrenhauses verwirklicht werden sollten, auch hier Be¬ rücksichtigung erfahren. Die Gefahren, welche der Dualismus für den Fortbestand der Monarchie in sich birgt, werden vom Verfasser nicht verkannt, und er giebt ferner zu, daß die von ihm befürwortete Union sie nicht ganz beseitigt, da die Möglichkeit eines prinzipiellen Zwiespalts zwischen den beiden Reichstagen bestehen bleibt und politische Verhältnisse eintreten können, wo selbst die parlamentarische Regierungsweise durch den festen Widerstand des einen der beiden in einer wichtigen Frage empfindlich gestört werden kann. Aber mit vollem Recht be¬ hauptet unsre Schrift, daß jede andere Lösung der Verfassungsfrage weit größere Gefahren in sich birgt. .Angenommen," sagt sie, „daß eine einheitliche Reichs- Vertretung der Gesammtmonarchie heute mittelst der konstitutionellen Centrali¬ sation zu erlangen wäre, so würden die Deutschen unläugbar sich den Vertretern sämmtlicher andern Nationen gegenüber in einer bedeutend kleinen Minorität befinden, ungefähr wie hundert gegen zweihundertfunfzig Stimmni. In jeder allgemeinen Frage, wo es sich um ein nationales Interesse, um die autonome Stellung der einzelnen Länder und Stämme handeln würde, könnte man gewiß sein, daß die deutsche Partei und die centralistische Richtung vollständig unterliegen müßte. Der Kampf, welchen die Nationalitäten bisher im ganzen Reiche in einzelnen Gruppen geführt haben, würde im Gesammtreichsrathe einen legalen Boden und eine compacte Widerstandskraft erhalten, und wir müssen gegründete Zweifel hegen, ob dieser Gesammtreichsrath auch nur eine einzige Session zu durchleben sähig wäre." „Jedenfalls steht so viel fest, daß in einem östreichischen

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_284469
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_284469/350
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_284469/350>, abgerufen am 29.09.2024.