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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. I. Band.

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in großer Verbreitung auf einem durch die Sprache eng begrenzten Raum die
öffentlichen Interessen des Landes. Die belletristische Literatur Ungarns hat
productive Talente hohen Ranges aufzuweisen. Nirgends findet jede intellectuelle
Leistung so rasch allgemeine und opferwillige Anerkennung und Förderung als
hier. Endlich sehen wir in dem männlichen Selbstbewußtsein der einzelnen
Individuen, in der Einmütigkeit der politischen Anschauung und in der Volks¬
disciplin, welche die ungarische Politik trotz ihrer verhältnißmäßig geringen
Operativmittel so geachtet macht, die charakteristischen Merkmale einer politisch
gereiften, zu staatlicher Action berufenen Nation. Es ist wahr, der Magyare
hat auch seine Schwächen und Fehler, aber viele derselben sind nur die rauhen
Follen, auf welchen sich die seltnen Vorzüge des ungarischen Nationalcharakters
wiederspiegeln. Die freiwillige Unterordnung des deutschen und slavischen
Elements in Ungarn, welche so oft getadelt worden, ist daher nichts weniger
als unbegreiflich. Der Magyare hat von jeher die Geschichte des Landes ge¬
leitet und entschieden, der magyarische Adel hat die Verfassungskämpfe gekämpft,
und er steht heute wieder wie immer an der Spitze des nationalen Freiheits¬
werkes. Und trotzdem hat kaum irgendwo anderwärts eine größere Achtung
der Gewissensfreiheit und der althergebrachten Rechte der hier angesiedelten
Stämme bestanden als im mittelalterlichen Ungarn. Noch heute leben die
Deutschen in der Zips, in der Marmarosch, im Banat und im^^^MM^c
Sachsenlande unter dem Schutz ihrer alten eigenthümlichen Institutionen, die
nie von magyarischer Seite angefochten wurden, vielmehr in der ungarischen
Verfassung ihre gemeinsame Stütze fanden. Das deutsche Element in Ungarn
hat sich infolge dessen mit dem politischen Bewußtsein des Landes identificirt,
ohne jedoch die eigne Nationalität deshalb aufzugeben. Mehr oder minder war
ein Gleiches bei den übrigen wenig entwickelten Nationalitäten im Lande, den
Rumänen, Kroaten, Slowaken und Serben zu behaupten, und erst gewisse
Mißgriffe von Seiten der Magyaren, mehr aber noch die lauernde Reaction in
Wien trieb diese bisher genügsamen, im Bewußtsein ihrer Schwäche bescheidenen
Nationalitäten an, die Stellung von selbständigen, anspruchsvollen Staats¬
gliedern zu begehren.

Oestreich besitzt, wir wiederholen es, nur zwei beachtenswerthe. weil voll¬
ständig entwickelte und culturhistorisch bedeutende nationale Elemente, diesseits
der Leitha das deutsche, jenseits das magyarische. An diese haben die übrigen
Bestandtheile der Monarchie sich in der Weise krystallistrt, daß dort jenes, hier
dieses Element den Mittelpunkt einer politischen Gruppe bildet. Hätte ein
Staatsmann als Hebel und Stütze einer politischen Organisation sich die natio¬
nalen Elemente auszuwählen, welche zugleich die stärkste Bürgschaft böten, daß
sie nicht nach Außen gravitirten, sondern nur in innigem Verbände mit dem
östreichischen Staatskörper gesicherte Existenz und staatlichen Einfluß suchten, so


in großer Verbreitung auf einem durch die Sprache eng begrenzten Raum die
öffentlichen Interessen des Landes. Die belletristische Literatur Ungarns hat
productive Talente hohen Ranges aufzuweisen. Nirgends findet jede intellectuelle
Leistung so rasch allgemeine und opferwillige Anerkennung und Förderung als
hier. Endlich sehen wir in dem männlichen Selbstbewußtsein der einzelnen
Individuen, in der Einmütigkeit der politischen Anschauung und in der Volks¬
disciplin, welche die ungarische Politik trotz ihrer verhältnißmäßig geringen
Operativmittel so geachtet macht, die charakteristischen Merkmale einer politisch
gereiften, zu staatlicher Action berufenen Nation. Es ist wahr, der Magyare
hat auch seine Schwächen und Fehler, aber viele derselben sind nur die rauhen
Follen, auf welchen sich die seltnen Vorzüge des ungarischen Nationalcharakters
wiederspiegeln. Die freiwillige Unterordnung des deutschen und slavischen
Elements in Ungarn, welche so oft getadelt worden, ist daher nichts weniger
als unbegreiflich. Der Magyare hat von jeher die Geschichte des Landes ge¬
leitet und entschieden, der magyarische Adel hat die Verfassungskämpfe gekämpft,
und er steht heute wieder wie immer an der Spitze des nationalen Freiheits¬
werkes. Und trotzdem hat kaum irgendwo anderwärts eine größere Achtung
der Gewissensfreiheit und der althergebrachten Rechte der hier angesiedelten
Stämme bestanden als im mittelalterlichen Ungarn. Noch heute leben die
Deutschen in der Zips, in der Marmarosch, im Banat und im^^^MM^c
Sachsenlande unter dem Schutz ihrer alten eigenthümlichen Institutionen, die
nie von magyarischer Seite angefochten wurden, vielmehr in der ungarischen
Verfassung ihre gemeinsame Stütze fanden. Das deutsche Element in Ungarn
hat sich infolge dessen mit dem politischen Bewußtsein des Landes identificirt,
ohne jedoch die eigne Nationalität deshalb aufzugeben. Mehr oder minder war
ein Gleiches bei den übrigen wenig entwickelten Nationalitäten im Lande, den
Rumänen, Kroaten, Slowaken und Serben zu behaupten, und erst gewisse
Mißgriffe von Seiten der Magyaren, mehr aber noch die lauernde Reaction in
Wien trieb diese bisher genügsamen, im Bewußtsein ihrer Schwäche bescheidenen
Nationalitäten an, die Stellung von selbständigen, anspruchsvollen Staats¬
gliedern zu begehren.

Oestreich besitzt, wir wiederholen es, nur zwei beachtenswerthe. weil voll¬
ständig entwickelte und culturhistorisch bedeutende nationale Elemente, diesseits
der Leitha das deutsche, jenseits das magyarische. An diese haben die übrigen
Bestandtheile der Monarchie sich in der Weise krystallistrt, daß dort jenes, hier
dieses Element den Mittelpunkt einer politischen Gruppe bildet. Hätte ein
Staatsmann als Hebel und Stütze einer politischen Organisation sich die natio¬
nalen Elemente auszuwählen, welche zugleich die stärkste Bürgschaft böten, daß
sie nicht nach Außen gravitirten, sondern nur in innigem Verbände mit dem
östreichischen Staatskörper gesicherte Existenz und staatlichen Einfluß suchten, so


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_284469/346>, abgerufen am 29.06.2024.