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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. I. Band.

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stützt würden, müsse es der ärmeren Bevölkerung befremdend erscheinen, daß
ihre zum Lebensunterhalt viel dringlichere Arbeit an Sonntagen nicht geduldet
werden solle.

Eine dritte Fraction suchte zwischen beiden Gegensähen zu vermitteln, in¬
dem sie ein Verbot oder eine Beschränkung der Arbeit an Sonntagvormit¬
tagen der Regierung zugestehen, die Gestattung der Arbeit an Sonntagnach¬
mittagen und der Hilfsleistung mit Erntefuhren aber bei Bestand lassen wollte.
Auch wünschten Einige zu jenem Verbot noch den mildernden Zusatz, daß den
Ortsobrigkeiten, also den Gutsherrschaften, die Befugniß beigelegt werde, in
Fällen der Noth von dem Verbot zu dispensiren. Nach zweitägiger Verhand¬
lung wurde ein Vorschlag dieser Art, jedoch ohne den Zusatz, mit SS gegen
47 Stimmen zum Beschluß erhoben. Darnach soll die Arbeit an Sonntag¬
vormittagen fortan gänzlich aufhören; von einem dafür den Arbeitern Seitens
der Gutsherren zu gewährenden Aequivalent durch Einräumung von freier Ar-
beitszeit an Werktagen, wie die Negierung es gefordert hatte, enthielt der Be¬
schluß nichts. Aus der Discussion verdient noch eine Aeußerung des Syndicus
Meyer aus Rostock verzeichnet zu werden, daß er keinen Unterschied finde, ob
eine Tagelöhnersfrau bei ihren Kartoffeln arbeite oder eine Hausfrau höheren
Standes sich mit Spargelstechen beschäftige, worauf ihn Graf v. Bassewitz-
Dieckhof belehrte, daß nach dem Katechismus jede Berufsarbeit und da¬
her auch das Spargelstechen, sobald es unter den Begriff der Berufsarbeit falle,
am Sonntag verboten sei.

Den Gegenstand eines mehrjährigen Streites zwischen Regierung und
Ständen hatten gewisse neue Formulare gebildet, welche der Oberkirchenrath
den Geistlichen für den Act der Trauung, der Taufe, der Confirmation und
andere Amtshandlungen zur Vorschrift gemacht hatte, ohne um die ständische
Genehmigung für diese neue Kirchengesetzgebung sich zu bemühen. Durch fort¬
gesetzte Beschwerden hatten die Stände endlich so viel erreicht, daß unter Berück¬
sichtigung ihrer sachlichen Ausstellungen vom Oberkirchenraih eine Revision der
Formulare veranstaltet war und die revidirten Formulare ihnen jetzt zur Er¬
klärung vorgelegt wurden. Dabei wurde ihnen mitgetheilt, daß der Ober¬
kirchenrath gegen die von den Ständen begehrte Publication der neuen Formu¬
lare, nach erreichter Einigung, zwar an sich nichts einzuwenden habe, aber dar¬
auf aufmerksam mache, daß dadurch jedenfalls die Kritik hervorgerufen werden
würde, und daß bei der in der jetzigen Atmosphäre herrschenden Entzündlichkeit
daraus leicht unangenehme Folgen erwachsen könnten, weshalb es den Vorzug
verdiene, von der Publication im Gesetzesblatt abzusehen und sich auf eine
geheime Mittheilung der Formulare an die Stände und an die Pastoren an
Stelle der Publication zu beschränken. Gewiß ein Ausweg , welcher mehr das
Prcidicat der List als der Ehrlichkeit verdient! Die Versammlung war jetzt im


stützt würden, müsse es der ärmeren Bevölkerung befremdend erscheinen, daß
ihre zum Lebensunterhalt viel dringlichere Arbeit an Sonntagen nicht geduldet
werden solle.

Eine dritte Fraction suchte zwischen beiden Gegensähen zu vermitteln, in¬
dem sie ein Verbot oder eine Beschränkung der Arbeit an Sonntagvormit¬
tagen der Regierung zugestehen, die Gestattung der Arbeit an Sonntagnach¬
mittagen und der Hilfsleistung mit Erntefuhren aber bei Bestand lassen wollte.
Auch wünschten Einige zu jenem Verbot noch den mildernden Zusatz, daß den
Ortsobrigkeiten, also den Gutsherrschaften, die Befugniß beigelegt werde, in
Fällen der Noth von dem Verbot zu dispensiren. Nach zweitägiger Verhand¬
lung wurde ein Vorschlag dieser Art, jedoch ohne den Zusatz, mit SS gegen
47 Stimmen zum Beschluß erhoben. Darnach soll die Arbeit an Sonntag¬
vormittagen fortan gänzlich aufhören; von einem dafür den Arbeitern Seitens
der Gutsherren zu gewährenden Aequivalent durch Einräumung von freier Ar-
beitszeit an Werktagen, wie die Negierung es gefordert hatte, enthielt der Be¬
schluß nichts. Aus der Discussion verdient noch eine Aeußerung des Syndicus
Meyer aus Rostock verzeichnet zu werden, daß er keinen Unterschied finde, ob
eine Tagelöhnersfrau bei ihren Kartoffeln arbeite oder eine Hausfrau höheren
Standes sich mit Spargelstechen beschäftige, worauf ihn Graf v. Bassewitz-
Dieckhof belehrte, daß nach dem Katechismus jede Berufsarbeit und da¬
her auch das Spargelstechen, sobald es unter den Begriff der Berufsarbeit falle,
am Sonntag verboten sei.

Den Gegenstand eines mehrjährigen Streites zwischen Regierung und
Ständen hatten gewisse neue Formulare gebildet, welche der Oberkirchenrath
den Geistlichen für den Act der Trauung, der Taufe, der Confirmation und
andere Amtshandlungen zur Vorschrift gemacht hatte, ohne um die ständische
Genehmigung für diese neue Kirchengesetzgebung sich zu bemühen. Durch fort¬
gesetzte Beschwerden hatten die Stände endlich so viel erreicht, daß unter Berück¬
sichtigung ihrer sachlichen Ausstellungen vom Oberkirchenraih eine Revision der
Formulare veranstaltet war und die revidirten Formulare ihnen jetzt zur Er¬
klärung vorgelegt wurden. Dabei wurde ihnen mitgetheilt, daß der Ober¬
kirchenrath gegen die von den Ständen begehrte Publication der neuen Formu¬
lare, nach erreichter Einigung, zwar an sich nichts einzuwenden habe, aber dar¬
auf aufmerksam mache, daß dadurch jedenfalls die Kritik hervorgerufen werden
würde, und daß bei der in der jetzigen Atmosphäre herrschenden Entzündlichkeit
daraus leicht unangenehme Folgen erwachsen könnten, weshalb es den Vorzug
verdiene, von der Publication im Gesetzesblatt abzusehen und sich auf eine
geheime Mittheilung der Formulare an die Stände und an die Pastoren an
Stelle der Publication zu beschränken. Gewiß ein Ausweg , welcher mehr das
Prcidicat der List als der Ehrlichkeit verdient! Die Versammlung war jetzt im


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[0236] stützt würden, müsse es der ärmeren Bevölkerung befremdend erscheinen, daß ihre zum Lebensunterhalt viel dringlichere Arbeit an Sonntagen nicht geduldet werden solle. Eine dritte Fraction suchte zwischen beiden Gegensähen zu vermitteln, in¬ dem sie ein Verbot oder eine Beschränkung der Arbeit an Sonntagvormit¬ tagen der Regierung zugestehen, die Gestattung der Arbeit an Sonntagnach¬ mittagen und der Hilfsleistung mit Erntefuhren aber bei Bestand lassen wollte. Auch wünschten Einige zu jenem Verbot noch den mildernden Zusatz, daß den Ortsobrigkeiten, also den Gutsherrschaften, die Befugniß beigelegt werde, in Fällen der Noth von dem Verbot zu dispensiren. Nach zweitägiger Verhand¬ lung wurde ein Vorschlag dieser Art, jedoch ohne den Zusatz, mit SS gegen 47 Stimmen zum Beschluß erhoben. Darnach soll die Arbeit an Sonntag¬ vormittagen fortan gänzlich aufhören; von einem dafür den Arbeitern Seitens der Gutsherren zu gewährenden Aequivalent durch Einräumung von freier Ar- beitszeit an Werktagen, wie die Negierung es gefordert hatte, enthielt der Be¬ schluß nichts. Aus der Discussion verdient noch eine Aeußerung des Syndicus Meyer aus Rostock verzeichnet zu werden, daß er keinen Unterschied finde, ob eine Tagelöhnersfrau bei ihren Kartoffeln arbeite oder eine Hausfrau höheren Standes sich mit Spargelstechen beschäftige, worauf ihn Graf v. Bassewitz- Dieckhof belehrte, daß nach dem Katechismus jede Berufsarbeit und da¬ her auch das Spargelstechen, sobald es unter den Begriff der Berufsarbeit falle, am Sonntag verboten sei. Den Gegenstand eines mehrjährigen Streites zwischen Regierung und Ständen hatten gewisse neue Formulare gebildet, welche der Oberkirchenrath den Geistlichen für den Act der Trauung, der Taufe, der Confirmation und andere Amtshandlungen zur Vorschrift gemacht hatte, ohne um die ständische Genehmigung für diese neue Kirchengesetzgebung sich zu bemühen. Durch fort¬ gesetzte Beschwerden hatten die Stände endlich so viel erreicht, daß unter Berück¬ sichtigung ihrer sachlichen Ausstellungen vom Oberkirchenraih eine Revision der Formulare veranstaltet war und die revidirten Formulare ihnen jetzt zur Er¬ klärung vorgelegt wurden. Dabei wurde ihnen mitgetheilt, daß der Ober¬ kirchenrath gegen die von den Ständen begehrte Publication der neuen Formu¬ lare, nach erreichter Einigung, zwar an sich nichts einzuwenden habe, aber dar¬ auf aufmerksam mache, daß dadurch jedenfalls die Kritik hervorgerufen werden würde, und daß bei der in der jetzigen Atmosphäre herrschenden Entzündlichkeit daraus leicht unangenehme Folgen erwachsen könnten, weshalb es den Vorzug verdiene, von der Publication im Gesetzesblatt abzusehen und sich auf eine geheime Mittheilung der Formulare an die Stände und an die Pastoren an Stelle der Publication zu beschränken. Gewiß ein Ausweg , welcher mehr das Prcidicat der List als der Ehrlichkeit verdient! Die Versammlung war jetzt im

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_284469/236>, abgerufen am 26.06.2024.