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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. I. Band.

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Welt älter und klüger geworden, und Spanien mit ihr. Schon die große Ver¬
folgung der Mönche durch das Volk, welche 1838 losbrach, deutete darauf hin.
und wenn uns heutzutage Herr Stolz weiter von den Spaniern rühmt, Skepticis¬
mus sei unter ihnen unbekannt, die Geistlichen seien unter ihnen im besten Sinne
des Wortes populär, so hat er durch eine Brille gesehen, um die wir den Besitzer
nicht beneiden. Eher das Gegentheil von alledem ist von der Mehrzahl der
heutigen Spanier zu behaupten.

Diese Majorität, der ein großer Theil des weiblichen Geschlechts und in
einigen von bedeutendern Städten entfernten Gegenden das Landvolk gegenüber¬
steht, ist nur dem Namen nach katholisch, in der Wirklichkeit besteht sie aus
Deisten und völlig Glaubenslosen. Weder die Einen noch die Andern halten
das Mindeste von Heiligenverehrung, Sacramenten, Priestern, Reliquien und
andern zum Apparat der alten Kirche gehörigen Dingen, weder die Einen noch
die Andern beschäftigen sich mit irgendwelchen Fragen des Katechismus. Wo
etwas der Art bemerkt wird, ist es Anbequemung an das Herkommen aus per¬
sönlichem Interesse. Um gut mit seiner Umgebung zu stehen, um die Gefühle
von Mutter, Schwester oder Frau nicht zu verletzen, um eine Anstellung zu
bekommen oder eine solche nicht zu verlieren, wenn die Neukatholiken am Ruder
sind, oder aus ähnlichen profanen Gründen besucht man die Messe, kauft man
vom Sakristan Beichtzettel, geht man zum Abendmahl, schließt man sich einer
frommen Bruderschaft an. Die Heuchelei ist allenthalben weit verbreitet, und
die Kirche ist mit ihr zufrieden. Der Klerus hat wiederholt "für den heiligen
Glauben" zu den Waffen gegriffen und den Aufruhr gepredigt, aber in Wahr¬
heit geschah es nur. weil der Staat ihm an den Beutel gewollt, seine Güter
eingezogen und ihm den Zehnten genommen hatte. Die Vornehmen und Reichen
sind innerlich fast durchweg indifferent gegen alles Religiöse, und beinahe das¬
selbe gilt von der Mittelclasse. Wenn mqn einen Nocedal, ehe er seinen Platz
im Senat einnimmt, mit devoter Geberde den Ring des Erzbischofs Cirillo
küssen sieht, so lqcht das Volk über die Posse; denn von dem Einen wie von
dem Andern gilt für ausgemacht, daß er weder an Gott noch den Teufel glaubt.
Nur der Abschaum der Gesellschaft bewahrt außer den vorhin genannten Classen
den echten Mirakel- und Heiligencultus und den ganzen Aberglauben von ehedem.
"Die Diebe, die Freudenmädchen und wer sonst ein schlechtes Leben führt, be¬
deckt sich, mit Reliquien, stellt zu Hause Altäre auf und zündet Wachskerzen vor
den Heiligenbildern an, und in jedem der Ausschweifung gewidmeten Alkoven
findet sich eine Vase mit Weihwasser, ein Crucifix und eine heilige Jungfrau."

So berichtete der mit den Verhältnissen seines Vaterlandes wohlvertraute
GarridA*) im Jahre 1862. und nüchterne deutsche Beobachter, z. B. v. Wolzogen.



-) "Karrido, Das heutige Spanien. Deutsch von A. Rüge. Leipzig. Kummer, 186?.

Welt älter und klüger geworden, und Spanien mit ihr. Schon die große Ver¬
folgung der Mönche durch das Volk, welche 1838 losbrach, deutete darauf hin.
und wenn uns heutzutage Herr Stolz weiter von den Spaniern rühmt, Skepticis¬
mus sei unter ihnen unbekannt, die Geistlichen seien unter ihnen im besten Sinne
des Wortes populär, so hat er durch eine Brille gesehen, um die wir den Besitzer
nicht beneiden. Eher das Gegentheil von alledem ist von der Mehrzahl der
heutigen Spanier zu behaupten.

Diese Majorität, der ein großer Theil des weiblichen Geschlechts und in
einigen von bedeutendern Städten entfernten Gegenden das Landvolk gegenüber¬
steht, ist nur dem Namen nach katholisch, in der Wirklichkeit besteht sie aus
Deisten und völlig Glaubenslosen. Weder die Einen noch die Andern halten
das Mindeste von Heiligenverehrung, Sacramenten, Priestern, Reliquien und
andern zum Apparat der alten Kirche gehörigen Dingen, weder die Einen noch
die Andern beschäftigen sich mit irgendwelchen Fragen des Katechismus. Wo
etwas der Art bemerkt wird, ist es Anbequemung an das Herkommen aus per¬
sönlichem Interesse. Um gut mit seiner Umgebung zu stehen, um die Gefühle
von Mutter, Schwester oder Frau nicht zu verletzen, um eine Anstellung zu
bekommen oder eine solche nicht zu verlieren, wenn die Neukatholiken am Ruder
sind, oder aus ähnlichen profanen Gründen besucht man die Messe, kauft man
vom Sakristan Beichtzettel, geht man zum Abendmahl, schließt man sich einer
frommen Bruderschaft an. Die Heuchelei ist allenthalben weit verbreitet, und
die Kirche ist mit ihr zufrieden. Der Klerus hat wiederholt „für den heiligen
Glauben" zu den Waffen gegriffen und den Aufruhr gepredigt, aber in Wahr¬
heit geschah es nur. weil der Staat ihm an den Beutel gewollt, seine Güter
eingezogen und ihm den Zehnten genommen hatte. Die Vornehmen und Reichen
sind innerlich fast durchweg indifferent gegen alles Religiöse, und beinahe das¬
selbe gilt von der Mittelclasse. Wenn mqn einen Nocedal, ehe er seinen Platz
im Senat einnimmt, mit devoter Geberde den Ring des Erzbischofs Cirillo
küssen sieht, so lqcht das Volk über die Posse; denn von dem Einen wie von
dem Andern gilt für ausgemacht, daß er weder an Gott noch den Teufel glaubt.
Nur der Abschaum der Gesellschaft bewahrt außer den vorhin genannten Classen
den echten Mirakel- und Heiligencultus und den ganzen Aberglauben von ehedem.
„Die Diebe, die Freudenmädchen und wer sonst ein schlechtes Leben führt, be¬
deckt sich, mit Reliquien, stellt zu Hause Altäre auf und zündet Wachskerzen vor
den Heiligenbildern an, und in jedem der Ausschweifung gewidmeten Alkoven
findet sich eine Vase mit Weihwasser, ein Crucifix und eine heilige Jungfrau."

So berichtete der mit den Verhältnissen seines Vaterlandes wohlvertraute
GarridA*) im Jahre 1862. und nüchterne deutsche Beobachter, z. B. v. Wolzogen.



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[0218] Welt älter und klüger geworden, und Spanien mit ihr. Schon die große Ver¬ folgung der Mönche durch das Volk, welche 1838 losbrach, deutete darauf hin. und wenn uns heutzutage Herr Stolz weiter von den Spaniern rühmt, Skepticis¬ mus sei unter ihnen unbekannt, die Geistlichen seien unter ihnen im besten Sinne des Wortes populär, so hat er durch eine Brille gesehen, um die wir den Besitzer nicht beneiden. Eher das Gegentheil von alledem ist von der Mehrzahl der heutigen Spanier zu behaupten. Diese Majorität, der ein großer Theil des weiblichen Geschlechts und in einigen von bedeutendern Städten entfernten Gegenden das Landvolk gegenüber¬ steht, ist nur dem Namen nach katholisch, in der Wirklichkeit besteht sie aus Deisten und völlig Glaubenslosen. Weder die Einen noch die Andern halten das Mindeste von Heiligenverehrung, Sacramenten, Priestern, Reliquien und andern zum Apparat der alten Kirche gehörigen Dingen, weder die Einen noch die Andern beschäftigen sich mit irgendwelchen Fragen des Katechismus. Wo etwas der Art bemerkt wird, ist es Anbequemung an das Herkommen aus per¬ sönlichem Interesse. Um gut mit seiner Umgebung zu stehen, um die Gefühle von Mutter, Schwester oder Frau nicht zu verletzen, um eine Anstellung zu bekommen oder eine solche nicht zu verlieren, wenn die Neukatholiken am Ruder sind, oder aus ähnlichen profanen Gründen besucht man die Messe, kauft man vom Sakristan Beichtzettel, geht man zum Abendmahl, schließt man sich einer frommen Bruderschaft an. Die Heuchelei ist allenthalben weit verbreitet, und die Kirche ist mit ihr zufrieden. Der Klerus hat wiederholt „für den heiligen Glauben" zu den Waffen gegriffen und den Aufruhr gepredigt, aber in Wahr¬ heit geschah es nur. weil der Staat ihm an den Beutel gewollt, seine Güter eingezogen und ihm den Zehnten genommen hatte. Die Vornehmen und Reichen sind innerlich fast durchweg indifferent gegen alles Religiöse, und beinahe das¬ selbe gilt von der Mittelclasse. Wenn mqn einen Nocedal, ehe er seinen Platz im Senat einnimmt, mit devoter Geberde den Ring des Erzbischofs Cirillo küssen sieht, so lqcht das Volk über die Posse; denn von dem Einen wie von dem Andern gilt für ausgemacht, daß er weder an Gott noch den Teufel glaubt. Nur der Abschaum der Gesellschaft bewahrt außer den vorhin genannten Classen den echten Mirakel- und Heiligencultus und den ganzen Aberglauben von ehedem. „Die Diebe, die Freudenmädchen und wer sonst ein schlechtes Leben führt, be¬ deckt sich, mit Reliquien, stellt zu Hause Altäre auf und zündet Wachskerzen vor den Heiligenbildern an, und in jedem der Ausschweifung gewidmeten Alkoven findet sich eine Vase mit Weihwasser, ein Crucifix und eine heilige Jungfrau." So berichtete der mit den Verhältnissen seines Vaterlandes wohlvertraute GarridA*) im Jahre 1862. und nüchterne deutsche Beobachter, z. B. v. Wolzogen. -) «Karrido, Das heutige Spanien. Deutsch von A. Rüge. Leipzig. Kummer, 186?.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_284469/218>, abgerufen am 26.06.2024.