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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. I. Band.

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Gin Blick aus das heutige Spanien.

Die neuesten Ereignisse auf der iberischen Halbinsel haben auch das deutsche
PulMum veranlaßt, sich wieder einmal mit dem lange nicht viel beachteten
Spanien lebhafter zu beschäftigten, und da diese Ereignisse, wie wir in voriger
Woche auseinandersetzten, aller Wahrscheinlichkeit nach nur Vorläufer größerer
sind, so wird eine weitere Mittheilung über die Zustände jenseits der Pyrenäen
Willkommen, ja, da über dieselben vielfach unrichtige Meinungen verbreitet sind,
zum Verständniß dessen, was geschehen ist und was weiter kommen zu wollen
scheint, gradezu nothwendig sein.

Eine beträchtliche Anzahl sonst wohlunterrichteter Leute stellt sich -- wir
wissen das aus Erfahrung -- das neue Spanien nicht viel anders vor als
das alte, und oberflächliche oder parteiische Reisende bestärken durch' ihre Be¬
richte diesen Irrthum. Romantische Ritterlichkeit und Bettelhaftigkeit, malerische
Lumpen, düster blickende Mönchskutten, viel Weihrauch, Processionen zu wunder¬
thätigen Bildern, Stiergefechte, prächtig geputzte Räuber, stolze Granden, Gesang,
Tanz und Saitenspiel auf allen Straßen, Vernachlässigung des Schulwesens,
Mangel an Spuren bürgerlicher Thätigkeit, an Eisenbahnen und Fabriken bilden
die Hauptzüge an dieser Vorstellung. Versuchen wir sie zu berichtigen und zu
ergänzen.

Zunächst denkt man sich den Spanier gewöhnlich als einen eifrigen katho¬
lischen Christen. Herr Alban Stolz berichtet ja emphatisch: "Der Spanier
will Christ sein mit dem ganzen Menschen; bis auf den Marktplatz und selbst
in den Tanz schlägt und schäumt seine Religiosität noch ihre Wellen hinaus",
und: "ich bin überzeugt, daß kein Volk einen innigeren, tieferen Glauben hat
als das spanische; es ist das einzige, in welchem der christliche Glaube so in
Fleisch und Blut, in Sinn und Sitte übergegangen ist, wie der Mosaismus
w das jüdische". Das mag schön und geistreich klingen und würde das noch
größere Lob verdienen, auch wahr zu sein, wenn wir statt "Christ" Katholik
und statt "Glauben" Bigotterie und Intoleranz setzten und -- wenn der Herr
Pater in Freiburg nach Neiseeindrücken nicht aus den fünfziger, sondern etwa
aus den zwanziger Jahren unsres Säculums berichtete. Inzwischen ist die


Grenzboten I. 1866. , 26
Gin Blick aus das heutige Spanien.

Die neuesten Ereignisse auf der iberischen Halbinsel haben auch das deutsche
PulMum veranlaßt, sich wieder einmal mit dem lange nicht viel beachteten
Spanien lebhafter zu beschäftigten, und da diese Ereignisse, wie wir in voriger
Woche auseinandersetzten, aller Wahrscheinlichkeit nach nur Vorläufer größerer
sind, so wird eine weitere Mittheilung über die Zustände jenseits der Pyrenäen
Willkommen, ja, da über dieselben vielfach unrichtige Meinungen verbreitet sind,
zum Verständniß dessen, was geschehen ist und was weiter kommen zu wollen
scheint, gradezu nothwendig sein.

Eine beträchtliche Anzahl sonst wohlunterrichteter Leute stellt sich — wir
wissen das aus Erfahrung — das neue Spanien nicht viel anders vor als
das alte, und oberflächliche oder parteiische Reisende bestärken durch' ihre Be¬
richte diesen Irrthum. Romantische Ritterlichkeit und Bettelhaftigkeit, malerische
Lumpen, düster blickende Mönchskutten, viel Weihrauch, Processionen zu wunder¬
thätigen Bildern, Stiergefechte, prächtig geputzte Räuber, stolze Granden, Gesang,
Tanz und Saitenspiel auf allen Straßen, Vernachlässigung des Schulwesens,
Mangel an Spuren bürgerlicher Thätigkeit, an Eisenbahnen und Fabriken bilden
die Hauptzüge an dieser Vorstellung. Versuchen wir sie zu berichtigen und zu
ergänzen.

Zunächst denkt man sich den Spanier gewöhnlich als einen eifrigen katho¬
lischen Christen. Herr Alban Stolz berichtet ja emphatisch: „Der Spanier
will Christ sein mit dem ganzen Menschen; bis auf den Marktplatz und selbst
in den Tanz schlägt und schäumt seine Religiosität noch ihre Wellen hinaus",
und: „ich bin überzeugt, daß kein Volk einen innigeren, tieferen Glauben hat
als das spanische; es ist das einzige, in welchem der christliche Glaube so in
Fleisch und Blut, in Sinn und Sitte übergegangen ist, wie der Mosaismus
w das jüdische". Das mag schön und geistreich klingen und würde das noch
größere Lob verdienen, auch wahr zu sein, wenn wir statt „Christ" Katholik
und statt „Glauben" Bigotterie und Intoleranz setzten und — wenn der Herr
Pater in Freiburg nach Neiseeindrücken nicht aus den fünfziger, sondern etwa
aus den zwanziger Jahren unsres Säculums berichtete. Inzwischen ist die


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[0217] Gin Blick aus das heutige Spanien. Die neuesten Ereignisse auf der iberischen Halbinsel haben auch das deutsche PulMum veranlaßt, sich wieder einmal mit dem lange nicht viel beachteten Spanien lebhafter zu beschäftigten, und da diese Ereignisse, wie wir in voriger Woche auseinandersetzten, aller Wahrscheinlichkeit nach nur Vorläufer größerer sind, so wird eine weitere Mittheilung über die Zustände jenseits der Pyrenäen Willkommen, ja, da über dieselben vielfach unrichtige Meinungen verbreitet sind, zum Verständniß dessen, was geschehen ist und was weiter kommen zu wollen scheint, gradezu nothwendig sein. Eine beträchtliche Anzahl sonst wohlunterrichteter Leute stellt sich — wir wissen das aus Erfahrung — das neue Spanien nicht viel anders vor als das alte, und oberflächliche oder parteiische Reisende bestärken durch' ihre Be¬ richte diesen Irrthum. Romantische Ritterlichkeit und Bettelhaftigkeit, malerische Lumpen, düster blickende Mönchskutten, viel Weihrauch, Processionen zu wunder¬ thätigen Bildern, Stiergefechte, prächtig geputzte Räuber, stolze Granden, Gesang, Tanz und Saitenspiel auf allen Straßen, Vernachlässigung des Schulwesens, Mangel an Spuren bürgerlicher Thätigkeit, an Eisenbahnen und Fabriken bilden die Hauptzüge an dieser Vorstellung. Versuchen wir sie zu berichtigen und zu ergänzen. Zunächst denkt man sich den Spanier gewöhnlich als einen eifrigen katho¬ lischen Christen. Herr Alban Stolz berichtet ja emphatisch: „Der Spanier will Christ sein mit dem ganzen Menschen; bis auf den Marktplatz und selbst in den Tanz schlägt und schäumt seine Religiosität noch ihre Wellen hinaus", und: „ich bin überzeugt, daß kein Volk einen innigeren, tieferen Glauben hat als das spanische; es ist das einzige, in welchem der christliche Glaube so in Fleisch und Blut, in Sinn und Sitte übergegangen ist, wie der Mosaismus w das jüdische". Das mag schön und geistreich klingen und würde das noch größere Lob verdienen, auch wahr zu sein, wenn wir statt „Christ" Katholik und statt „Glauben" Bigotterie und Intoleranz setzten und — wenn der Herr Pater in Freiburg nach Neiseeindrücken nicht aus den fünfziger, sondern etwa aus den zwanziger Jahren unsres Säculums berichtete. Inzwischen ist die Grenzboten I. 1866. , 26

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_284469/217>, abgerufen am 22.12.2024.