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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. I. Band.

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Anzahl Anhänger und eine Anzahl Gegner erworben habe. Anhänger und
Gegner wird dasselbe vermuthlich immer haben, wie die meisten Dinge in der
Welt. Es kommt eben darauf an, auf welche Seite sich die Regierung stellen
will. Dazu gehört eine eigne, auf Grund bestimmter Thatsachen erworbene
Meinung, und der sehr einfache Weg, um zu dieser zu gelangen, besteht darin,
daß man den Thatbestand an Ort und Stelle durch eine Commission von Sach¬
verständigen untersuchen läßt, wie dies verschiedene andere Regierungen, neuer¬
dings die von Weimar, gethan haben. Die Gründe, warum dies in Preußen
nicht geschieht, wären der Darlegung Wohl werth, und diese Darlegung nicht
provocirt zu haben, ist ein Unterlassungssehler der Kammer.

Vergleicht man mit der nichtssagenden Erklärung der preußischen Regierungs-
commission in der vorliegenden Angelegenheit die Amlsinstniction des östreichischen
Justizministers, so ist nicht zu verkennen, daß diese sich durch Offenheit, Prä¬
cision und ein bestimmtes Farbebekennen auszeichnet. Wenn schon kein Pro¬
gramm, so sind doch wenigstens die Grundzüge zu einem solchen in derselben
enthalten. Mit der Anerkennung der Beurlaubung ist nothwendig die weitere
Anerkennung derjenigen Bedingungen gegeben, unter denen jene allein ihre
segensreiche Wirksamkeit zu entfalten vermag. Nur im Anschluß an das Pro¬
gressivsystem hat es überhaupt einen Sinn, von der trefflichen Bewährung der
dedingungsweisen Entlassung zu reden, denn nur im engsten Zusammenhang
mit jenem hat sich diese bewährt.

In dieser Beziehung hat das Beispiel Englands eine Wohl zu beherzigende
Lehre ertheilt. Das englische und das irische Gefängnihsystem waren trotz ihrer
entgegengesetzten Resultate nicht etwa von ganz verschiedenen Punkten aus¬
gegangen. Ihnen beiden diente ein und derselbe gesetzgeberische Act, der Par¬
lamentsbeschluß von 1853', zur Basis -- ein Beschluß/ der aus dem veränderten
Zustand der englischen Colonien hervorgegangen war. Da mit Ausnahme West¬
australiens alle Colonien der Zufuhr von Verbrechern sich verschlossen hatten,
Westaustralien selbst seiner örtlichen Beschaffenheit wegen aber nur eine geringe
Anzahl von Verbrechern übernehmen konnte, so war man aus ein System be¬
dacht, weiches die Freilassung der Verbrecher im eignen Lande ermöglichte.
Dieses System sollte das der tieket-ok-lsavö-men sein. Aber wer erinnert
sich nicht noch des keineswegs ungerechtfertigten Entsetzens, das diese verur¬
sachten? London vor allem schien damals in eine große Mörderhöhle verwandelt.
Die Zunahme grade der schwersten Verbrechen rechnete einige Jahre später, um
1861, nicht mehr nach Bruchtheilen von Procenten, sondern nach 30, 40, bis
zu 66 Procent, die öffentliche Sicherheit war in ihren Fundamenten erschüttert,
am hellen Tage trieben die Garrotteurs ihr schreckencrregendes Handwerk, die
gewöhnlichen Sicherheitsmaßregeln erwiesen sich als ohnmächtig gegen die kolos¬
sale Zunahme des Verbrechens. Ein Schrei der Entrüstung erhob sich im


Anzahl Anhänger und eine Anzahl Gegner erworben habe. Anhänger und
Gegner wird dasselbe vermuthlich immer haben, wie die meisten Dinge in der
Welt. Es kommt eben darauf an, auf welche Seite sich die Regierung stellen
will. Dazu gehört eine eigne, auf Grund bestimmter Thatsachen erworbene
Meinung, und der sehr einfache Weg, um zu dieser zu gelangen, besteht darin,
daß man den Thatbestand an Ort und Stelle durch eine Commission von Sach¬
verständigen untersuchen läßt, wie dies verschiedene andere Regierungen, neuer¬
dings die von Weimar, gethan haben. Die Gründe, warum dies in Preußen
nicht geschieht, wären der Darlegung Wohl werth, und diese Darlegung nicht
provocirt zu haben, ist ein Unterlassungssehler der Kammer.

Vergleicht man mit der nichtssagenden Erklärung der preußischen Regierungs-
commission in der vorliegenden Angelegenheit die Amlsinstniction des östreichischen
Justizministers, so ist nicht zu verkennen, daß diese sich durch Offenheit, Prä¬
cision und ein bestimmtes Farbebekennen auszeichnet. Wenn schon kein Pro¬
gramm, so sind doch wenigstens die Grundzüge zu einem solchen in derselben
enthalten. Mit der Anerkennung der Beurlaubung ist nothwendig die weitere
Anerkennung derjenigen Bedingungen gegeben, unter denen jene allein ihre
segensreiche Wirksamkeit zu entfalten vermag. Nur im Anschluß an das Pro¬
gressivsystem hat es überhaupt einen Sinn, von der trefflichen Bewährung der
dedingungsweisen Entlassung zu reden, denn nur im engsten Zusammenhang
mit jenem hat sich diese bewährt.

In dieser Beziehung hat das Beispiel Englands eine Wohl zu beherzigende
Lehre ertheilt. Das englische und das irische Gefängnihsystem waren trotz ihrer
entgegengesetzten Resultate nicht etwa von ganz verschiedenen Punkten aus¬
gegangen. Ihnen beiden diente ein und derselbe gesetzgeberische Act, der Par¬
lamentsbeschluß von 1853', zur Basis — ein Beschluß/ der aus dem veränderten
Zustand der englischen Colonien hervorgegangen war. Da mit Ausnahme West¬
australiens alle Colonien der Zufuhr von Verbrechern sich verschlossen hatten,
Westaustralien selbst seiner örtlichen Beschaffenheit wegen aber nur eine geringe
Anzahl von Verbrechern übernehmen konnte, so war man aus ein System be¬
dacht, weiches die Freilassung der Verbrecher im eignen Lande ermöglichte.
Dieses System sollte das der tieket-ok-lsavö-men sein. Aber wer erinnert
sich nicht noch des keineswegs ungerechtfertigten Entsetzens, das diese verur¬
sachten? London vor allem schien damals in eine große Mörderhöhle verwandelt.
Die Zunahme grade der schwersten Verbrechen rechnete einige Jahre später, um
1861, nicht mehr nach Bruchtheilen von Procenten, sondern nach 30, 40, bis
zu 66 Procent, die öffentliche Sicherheit war in ihren Fundamenten erschüttert,
am hellen Tage trieben die Garrotteurs ihr schreckencrregendes Handwerk, die
gewöhnlichen Sicherheitsmaßregeln erwiesen sich als ohnmächtig gegen die kolos¬
sale Zunahme des Verbrechens. Ein Schrei der Entrüstung erhob sich im


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_284469/208>, abgerufen am 26.06.2024.