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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. I. Band.

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die Regierung eine Vorlage wegen Einführung der Zellenhaft zunächst für
weibliche Strafgefangene vor die Kammern. Die Vorlage fand Annahme und
die Debatte war eigenthümlich genug, insofern die Negierung bei derselben die
wenigen aus einer liberalen Auffassung des Jsolirsystems hervorgegangenen
Modifikationen vertrat, die liberale Opposition dieselben dagegen bekämpfte.
Besonders bemerkenswerth erscheint aber, daß weder Regierung noch Kammer
sich der anderweit auf dem Gefängnißgebiet eingetretenen Erscheinungen anders
als nur höchst flüchtig und ohne denselben irgendwelche Rechnung zu tragen
erinnerten. Im guten Schwaben nehmen überhaupt die Dinge einen etwas
seltsamen Verlauf. Die Frage der Jsolirhaft wurde vor Jahren angeregt und
blieb auf sich beruhen, weil die Erfahrungen noch kein hinlänglich motivirtes
Urtheil gestatteten. Jetzt endlich glaubt man die Erfahrungen zu überblicken
und sich zur Einführung des Systems entschließen zu sollen, aber unglücklicher
konnte man den Moment im Grunde gar nicht wählen; denn grade das letzte
Decennium reifte die Resultate des irischen Strafvollzugs und erschütterte pro¬
gressiv das alleinseligmachende Dogma der Jsolirhaft. Ein Kampf der Ansichten
ist darüber entbrannt, der auf dem wissenschaftlichen Gebiete sehr lebhaft ge¬
führt wird und noch lange nicht seinen Abschluß gefunden hat. Würtemberg
aber, welches zehn Jahre lang ruhig wartete, um sich keines übereilten
Urtheils schuldig zu machen, erklärt sich in demselben Augenblick zu Gunsten
eines Systems, wo die Thatfrage bestrittener ist als je und wo die Früchte
derselben wurmstichig zu erscheinen anfangen. Blicken wir nach Preußen. Wäh¬
rend der letzten Session wurde die Negierung von dem Abgeordneten Dr. John
zu Gunsten des irischen Systems interpellirt. Der Regierungscommissär er¬
wiederte: es sei richtig, daß das irische System sich eine Anzahl Anhänger
selbst in Deutschland erworben habe, allein dasselbe habe auch verschiedene
Gegner, welche behaupteten, daß die ihm nachgerühmten Resultate auf Täuschung
veruheten. Das hohe Haus aber möge versichert sein, daß die Regierung den
Ergebnissen dieses Systems auch fernerhin mit Aufmerksamkeit folgen werde.

Das hohe Haus scheint diese Versicherung mit einer mir nicht ganz ver¬
ständlichen Zuversicht denn auch in der That für sehr beruhigend angesehen zu
haben, denn es ließ den Gegenstand fallen und behelligte das Ministerium
"icht einmal, wie der weimarsche Landtag es gethan, mit einer Aufforderung,
dem irischen System eine verschärfte Aufmerksamkeit und ein eingehendes Studium
zuzuwenden: oder war es von der Nutzlosigkeit einer solchen Aufforderung von
vornherein überzeugt? Wohl möglich und vielleicht nicht ohne Grund. Aber
dennoch erschien eine solche Aufforderung schon durch den Wortlaut der Er¬
klärung des Regierungscommissars geboten. Denn was soll man davon sagen,
wenn das ganze bisherige Studienergebniß der Negierung in nichts Anderem
besteht als in der Wahrnehmung, daß das irische Gesängnißsystem sich eine


Grenzboten I. 1866. 2S

die Regierung eine Vorlage wegen Einführung der Zellenhaft zunächst für
weibliche Strafgefangene vor die Kammern. Die Vorlage fand Annahme und
die Debatte war eigenthümlich genug, insofern die Negierung bei derselben die
wenigen aus einer liberalen Auffassung des Jsolirsystems hervorgegangenen
Modifikationen vertrat, die liberale Opposition dieselben dagegen bekämpfte.
Besonders bemerkenswerth erscheint aber, daß weder Regierung noch Kammer
sich der anderweit auf dem Gefängnißgebiet eingetretenen Erscheinungen anders
als nur höchst flüchtig und ohne denselben irgendwelche Rechnung zu tragen
erinnerten. Im guten Schwaben nehmen überhaupt die Dinge einen etwas
seltsamen Verlauf. Die Frage der Jsolirhaft wurde vor Jahren angeregt und
blieb auf sich beruhen, weil die Erfahrungen noch kein hinlänglich motivirtes
Urtheil gestatteten. Jetzt endlich glaubt man die Erfahrungen zu überblicken
und sich zur Einführung des Systems entschließen zu sollen, aber unglücklicher
konnte man den Moment im Grunde gar nicht wählen; denn grade das letzte
Decennium reifte die Resultate des irischen Strafvollzugs und erschütterte pro¬
gressiv das alleinseligmachende Dogma der Jsolirhaft. Ein Kampf der Ansichten
ist darüber entbrannt, der auf dem wissenschaftlichen Gebiete sehr lebhaft ge¬
führt wird und noch lange nicht seinen Abschluß gefunden hat. Würtemberg
aber, welches zehn Jahre lang ruhig wartete, um sich keines übereilten
Urtheils schuldig zu machen, erklärt sich in demselben Augenblick zu Gunsten
eines Systems, wo die Thatfrage bestrittener ist als je und wo die Früchte
derselben wurmstichig zu erscheinen anfangen. Blicken wir nach Preußen. Wäh¬
rend der letzten Session wurde die Negierung von dem Abgeordneten Dr. John
zu Gunsten des irischen Systems interpellirt. Der Regierungscommissär er¬
wiederte: es sei richtig, daß das irische System sich eine Anzahl Anhänger
selbst in Deutschland erworben habe, allein dasselbe habe auch verschiedene
Gegner, welche behaupteten, daß die ihm nachgerühmten Resultate auf Täuschung
veruheten. Das hohe Haus aber möge versichert sein, daß die Regierung den
Ergebnissen dieses Systems auch fernerhin mit Aufmerksamkeit folgen werde.

Das hohe Haus scheint diese Versicherung mit einer mir nicht ganz ver¬
ständlichen Zuversicht denn auch in der That für sehr beruhigend angesehen zu
haben, denn es ließ den Gegenstand fallen und behelligte das Ministerium
"icht einmal, wie der weimarsche Landtag es gethan, mit einer Aufforderung,
dem irischen System eine verschärfte Aufmerksamkeit und ein eingehendes Studium
zuzuwenden: oder war es von der Nutzlosigkeit einer solchen Aufforderung von
vornherein überzeugt? Wohl möglich und vielleicht nicht ohne Grund. Aber
dennoch erschien eine solche Aufforderung schon durch den Wortlaut der Er¬
klärung des Regierungscommissars geboten. Denn was soll man davon sagen,
wenn das ganze bisherige Studienergebniß der Negierung in nichts Anderem
besteht als in der Wahrnehmung, daß das irische Gesängnißsystem sich eine


Grenzboten I. 1866. 2S
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[0207] die Regierung eine Vorlage wegen Einführung der Zellenhaft zunächst für weibliche Strafgefangene vor die Kammern. Die Vorlage fand Annahme und die Debatte war eigenthümlich genug, insofern die Negierung bei derselben die wenigen aus einer liberalen Auffassung des Jsolirsystems hervorgegangenen Modifikationen vertrat, die liberale Opposition dieselben dagegen bekämpfte. Besonders bemerkenswerth erscheint aber, daß weder Regierung noch Kammer sich der anderweit auf dem Gefängnißgebiet eingetretenen Erscheinungen anders als nur höchst flüchtig und ohne denselben irgendwelche Rechnung zu tragen erinnerten. Im guten Schwaben nehmen überhaupt die Dinge einen etwas seltsamen Verlauf. Die Frage der Jsolirhaft wurde vor Jahren angeregt und blieb auf sich beruhen, weil die Erfahrungen noch kein hinlänglich motivirtes Urtheil gestatteten. Jetzt endlich glaubt man die Erfahrungen zu überblicken und sich zur Einführung des Systems entschließen zu sollen, aber unglücklicher konnte man den Moment im Grunde gar nicht wählen; denn grade das letzte Decennium reifte die Resultate des irischen Strafvollzugs und erschütterte pro¬ gressiv das alleinseligmachende Dogma der Jsolirhaft. Ein Kampf der Ansichten ist darüber entbrannt, der auf dem wissenschaftlichen Gebiete sehr lebhaft ge¬ führt wird und noch lange nicht seinen Abschluß gefunden hat. Würtemberg aber, welches zehn Jahre lang ruhig wartete, um sich keines übereilten Urtheils schuldig zu machen, erklärt sich in demselben Augenblick zu Gunsten eines Systems, wo die Thatfrage bestrittener ist als je und wo die Früchte derselben wurmstichig zu erscheinen anfangen. Blicken wir nach Preußen. Wäh¬ rend der letzten Session wurde die Negierung von dem Abgeordneten Dr. John zu Gunsten des irischen Systems interpellirt. Der Regierungscommissär er¬ wiederte: es sei richtig, daß das irische System sich eine Anzahl Anhänger selbst in Deutschland erworben habe, allein dasselbe habe auch verschiedene Gegner, welche behaupteten, daß die ihm nachgerühmten Resultate auf Täuschung veruheten. Das hohe Haus aber möge versichert sein, daß die Regierung den Ergebnissen dieses Systems auch fernerhin mit Aufmerksamkeit folgen werde. Das hohe Haus scheint diese Versicherung mit einer mir nicht ganz ver¬ ständlichen Zuversicht denn auch in der That für sehr beruhigend angesehen zu haben, denn es ließ den Gegenstand fallen und behelligte das Ministerium "icht einmal, wie der weimarsche Landtag es gethan, mit einer Aufforderung, dem irischen System eine verschärfte Aufmerksamkeit und ein eingehendes Studium zuzuwenden: oder war es von der Nutzlosigkeit einer solchen Aufforderung von vornherein überzeugt? Wohl möglich und vielleicht nicht ohne Grund. Aber dennoch erschien eine solche Aufforderung schon durch den Wortlaut der Er¬ klärung des Regierungscommissars geboten. Denn was soll man davon sagen, wenn das ganze bisherige Studienergebniß der Negierung in nichts Anderem besteht als in der Wahrnehmung, daß das irische Gesängnißsystem sich eine Grenzboten I. 1866. 2S

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_284469/207>, abgerufen am 22.12.2024.