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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. I. Band.

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englischen Publikum nicht allein gegen die Gairottirer, sondern vor allem gegen
die Regierung, gegen das Beurlaubungssystem, welches man als Hirngespinst
verdammte, und dem man alle gegenwärtigen Uebel Schuld gab. Und doch
war dies Hirngespinnst vortrefflich und der ihm zu Grunde liegende Gedanke
ebenso fruchtbar als wahr.

Es war Irland vorbehalten, den Beweis dafür zu liefern und die nahe¬
liegende Gefahr, daß das Kind mit dem Bade ausgeschüttet werde, daß eine
der werthvollsten Errungenschaften der neueren Gefängnißpraxis wieder verloren
gehe, zu verhüten. Crvfton, in dessen Hände die Leitung der Gefängnißver¬
waltung in Irland gelegt war, hatte, obgleich von derselben Basis ausgehend,
ganz andere Ergebnisse erzielt, wie sie England auszuweisen hatte. Mit einer
Hingebung und einem nie ermüdenden Eifer, der seines Gleichen sucht in der
Geschichte irgendeines Verwaltungsgebietes, hatte er die enormen Schwierig¬
keiten, welche ihm der schlechte Zustand der irischen Gefängnisse entgegenstellte,
überwunden") und schrittweise prüfend ein System von Einrichtungen geschaf¬
fen, die in bewundernswerther Weise der bedingten Freilassung zum sicheren
Unterbau dienten. Bei dem Zustand des irischen Gefyngnißwesens fehlte jede
moralische Vorbedingung für das System der Freilassung. Alles mußte von
Grund aus neu geschaffen werden, um diese, die daher vor der Hand noch
ganz suspendirt blieb, nur überhaupt einführen zu können. Vielleicht war dies
ein Glück, denn eben der gänzliche Mangel jedes Anknüpfungspunktes bewirkte,
daß man nicht wie in England sich mit einer oberflächlichen Prüfung der zu
Grunde zu legenden Bedingungen begnügte, sondern in dem mühsamen Werk
der Reorganisation jeden Schritt mit jener sachlich prüfenden Kritik unternahm,
die allein den Erfolg verbürgen konnte.

Es ist zunächst diesem, in Ansehung des widerspenstigen Materials gradezu
staunenswerthen Erfolg zu verdanken, wenn sich allmälig die Blicke der Crimi-
nalisten aller Länder auf die irischen Einrichtungen der Gefängnisse gerichtet
haben; wenn von verschiedenen Regierungen -- Rußland, Italien, Weimar --
specielle Untersuchungen des Thatbestandes angeordnet worden sind, wenn ein¬
zelne Staaten -- Braunschweig, Oldenburg, Sachsen -- mehr oder minder ge¬
lungene Nachahmungen derselben in ihren Gefängnißeinrichtungen vorgenom-



") Wie groß diese Schwierigkeiten waren, geht u. a. aus den Aussagen Croftons vor
dem Transportationscomits des Parlaments (18SS--SK) hervor. C> bemerkte dort: der Zu¬
stand der irischen Gefängnisse war unbeschreiblich jammervoll. Die Gefangenen waren mo¬
ralisch und Physisch zu Grunde gerichtet. Ihnen fehlte jedes Atom von Hoffnung, von Er-
jiehung, von allem, was man bei Gefangenen zu finden hofft. Diese Aussagen finden ihre
Bestätigung in einem Bericht des Gouverneurs von Westaustralien, welcher damals eine An¬
zahl irischer Gefangener überliefert erholten hatte und welcher es unmöglich fand, ihnen wie
den andern englischen Transvortirten Urlaubsscheine zu ertheilen, weil sie sich in einem Zustand
befanden, welcher jede Einwirkung moralischer Agentien vereitelte.
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englischen Publikum nicht allein gegen die Gairottirer, sondern vor allem gegen
die Regierung, gegen das Beurlaubungssystem, welches man als Hirngespinst
verdammte, und dem man alle gegenwärtigen Uebel Schuld gab. Und doch
war dies Hirngespinnst vortrefflich und der ihm zu Grunde liegende Gedanke
ebenso fruchtbar als wahr.

Es war Irland vorbehalten, den Beweis dafür zu liefern und die nahe¬
liegende Gefahr, daß das Kind mit dem Bade ausgeschüttet werde, daß eine
der werthvollsten Errungenschaften der neueren Gefängnißpraxis wieder verloren
gehe, zu verhüten. Crvfton, in dessen Hände die Leitung der Gefängnißver¬
waltung in Irland gelegt war, hatte, obgleich von derselben Basis ausgehend,
ganz andere Ergebnisse erzielt, wie sie England auszuweisen hatte. Mit einer
Hingebung und einem nie ermüdenden Eifer, der seines Gleichen sucht in der
Geschichte irgendeines Verwaltungsgebietes, hatte er die enormen Schwierig¬
keiten, welche ihm der schlechte Zustand der irischen Gefängnisse entgegenstellte,
überwunden") und schrittweise prüfend ein System von Einrichtungen geschaf¬
fen, die in bewundernswerther Weise der bedingten Freilassung zum sicheren
Unterbau dienten. Bei dem Zustand des irischen Gefyngnißwesens fehlte jede
moralische Vorbedingung für das System der Freilassung. Alles mußte von
Grund aus neu geschaffen werden, um diese, die daher vor der Hand noch
ganz suspendirt blieb, nur überhaupt einführen zu können. Vielleicht war dies
ein Glück, denn eben der gänzliche Mangel jedes Anknüpfungspunktes bewirkte,
daß man nicht wie in England sich mit einer oberflächlichen Prüfung der zu
Grunde zu legenden Bedingungen begnügte, sondern in dem mühsamen Werk
der Reorganisation jeden Schritt mit jener sachlich prüfenden Kritik unternahm,
die allein den Erfolg verbürgen konnte.

Es ist zunächst diesem, in Ansehung des widerspenstigen Materials gradezu
staunenswerthen Erfolg zu verdanken, wenn sich allmälig die Blicke der Crimi-
nalisten aller Länder auf die irischen Einrichtungen der Gefängnisse gerichtet
haben; wenn von verschiedenen Regierungen — Rußland, Italien, Weimar —
specielle Untersuchungen des Thatbestandes angeordnet worden sind, wenn ein¬
zelne Staaten — Braunschweig, Oldenburg, Sachsen — mehr oder minder ge¬
lungene Nachahmungen derselben in ihren Gefängnißeinrichtungen vorgenom-



") Wie groß diese Schwierigkeiten waren, geht u. a. aus den Aussagen Croftons vor
dem Transportationscomits des Parlaments (18SS—SK) hervor. C> bemerkte dort: der Zu¬
stand der irischen Gefängnisse war unbeschreiblich jammervoll. Die Gefangenen waren mo¬
ralisch und Physisch zu Grunde gerichtet. Ihnen fehlte jedes Atom von Hoffnung, von Er-
jiehung, von allem, was man bei Gefangenen zu finden hofft. Diese Aussagen finden ihre
Bestätigung in einem Bericht des Gouverneurs von Westaustralien, welcher damals eine An¬
zahl irischer Gefangener überliefert erholten hatte und welcher es unmöglich fand, ihnen wie
den andern englischen Transvortirten Urlaubsscheine zu ertheilen, weil sie sich in einem Zustand
befanden, welcher jede Einwirkung moralischer Agentien vereitelte.
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[0209] englischen Publikum nicht allein gegen die Gairottirer, sondern vor allem gegen die Regierung, gegen das Beurlaubungssystem, welches man als Hirngespinst verdammte, und dem man alle gegenwärtigen Uebel Schuld gab. Und doch war dies Hirngespinnst vortrefflich und der ihm zu Grunde liegende Gedanke ebenso fruchtbar als wahr. Es war Irland vorbehalten, den Beweis dafür zu liefern und die nahe¬ liegende Gefahr, daß das Kind mit dem Bade ausgeschüttet werde, daß eine der werthvollsten Errungenschaften der neueren Gefängnißpraxis wieder verloren gehe, zu verhüten. Crvfton, in dessen Hände die Leitung der Gefängnißver¬ waltung in Irland gelegt war, hatte, obgleich von derselben Basis ausgehend, ganz andere Ergebnisse erzielt, wie sie England auszuweisen hatte. Mit einer Hingebung und einem nie ermüdenden Eifer, der seines Gleichen sucht in der Geschichte irgendeines Verwaltungsgebietes, hatte er die enormen Schwierig¬ keiten, welche ihm der schlechte Zustand der irischen Gefängnisse entgegenstellte, überwunden") und schrittweise prüfend ein System von Einrichtungen geschaf¬ fen, die in bewundernswerther Weise der bedingten Freilassung zum sicheren Unterbau dienten. Bei dem Zustand des irischen Gefyngnißwesens fehlte jede moralische Vorbedingung für das System der Freilassung. Alles mußte von Grund aus neu geschaffen werden, um diese, die daher vor der Hand noch ganz suspendirt blieb, nur überhaupt einführen zu können. Vielleicht war dies ein Glück, denn eben der gänzliche Mangel jedes Anknüpfungspunktes bewirkte, daß man nicht wie in England sich mit einer oberflächlichen Prüfung der zu Grunde zu legenden Bedingungen begnügte, sondern in dem mühsamen Werk der Reorganisation jeden Schritt mit jener sachlich prüfenden Kritik unternahm, die allein den Erfolg verbürgen konnte. Es ist zunächst diesem, in Ansehung des widerspenstigen Materials gradezu staunenswerthen Erfolg zu verdanken, wenn sich allmälig die Blicke der Crimi- nalisten aller Länder auf die irischen Einrichtungen der Gefängnisse gerichtet haben; wenn von verschiedenen Regierungen — Rußland, Italien, Weimar — specielle Untersuchungen des Thatbestandes angeordnet worden sind, wenn ein¬ zelne Staaten — Braunschweig, Oldenburg, Sachsen — mehr oder minder ge¬ lungene Nachahmungen derselben in ihren Gefängnißeinrichtungen vorgenom- ") Wie groß diese Schwierigkeiten waren, geht u. a. aus den Aussagen Croftons vor dem Transportationscomits des Parlaments (18SS—SK) hervor. C> bemerkte dort: der Zu¬ stand der irischen Gefängnisse war unbeschreiblich jammervoll. Die Gefangenen waren mo¬ ralisch und Physisch zu Grunde gerichtet. Ihnen fehlte jedes Atom von Hoffnung, von Er- jiehung, von allem, was man bei Gefangenen zu finden hofft. Diese Aussagen finden ihre Bestätigung in einem Bericht des Gouverneurs von Westaustralien, welcher damals eine An¬ zahl irischer Gefangener überliefert erholten hatte und welcher es unmöglich fand, ihnen wie den andern englischen Transvortirten Urlaubsscheine zu ertheilen, weil sie sich in einem Zustand befanden, welcher jede Einwirkung moralischer Agentien vereitelte. 25 *

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_284469/209>, abgerufen am 26.06.2024.