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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. I. Band.

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tard die Kirche. Sie umgab die ausschließlich nach außen gerichtete Thätigkeit
des Volkes und die herrschsüchtige Politik seiner Lenker mit der Glorie des
Dienstes für den heiligen Glauben, sie rottete das Verständniß für eine wirk¬
lich sittliche Lebenspraxis aus, schrieb der Wissenschaft die engsten Schranken
vor, erfüllte die Welt mit Mirakeln, Reliquien und andrer frommer Magie,
mit Klöstern und Bruderschaften aller Art, beherrschte alles und beutete alles
aus. Halb Ritter, halb Mönch war die Signatur der Spanier des siebzehnten
Jahrhunderts. Das gläubige Volk gab sich ganz in die Hand seiner Priester,
es dachte und wollte nichts, als was der Kirche genehm war.

Die Folge jener Politik der Habsburgischen Könige, der Einwirkung der
Kirche und der Hingebung der Nation an beide war ein beispielloser politischer,
wirthschaftlicher und sittlicher Verfall. Als um die Mitte des siebzehnten Jahr¬
hunderts der große Glaubenskampf, welcher Europa ein volles Säculum er¬
schüttert, dem Frieden wich, war kein Staat so schwer geschädigt als Spanien.
Hundert Jahre hindurch hatten seine Feldherrn und Statthalter über die Mittel
eines beträchtlichen Theils Europas verfügt, seine Heere von fremdem Gut
gezehrt, keine fremde Armee seinen Boden betreten, und doch war in dieser
Zeit das Land auf weite Strecken hin verödet, Aecker, Flüsse und Häfen ver¬
einsamt, die Städte verfallen. Unermeßliche Schätze der neuen Welt, Staatsflotten
mit Silber beladen, schwere Lasten von Gold und edlen Steinen in den Truhen
von Privatleuten waren alljährlich an seinen Küsten gelandet, und doch war
es das ärmste und verschuldetste Land in Europa. Fast ausschließlich hatte das
Volk sein Dichten und Trachten auf sein Seelenheil gerichtet, und nun gab
es nirgends einen liederlicheren Adel, einen nichtsnutzigeren Beamtenstand, eine
trostlosere Zerrüttung und Verkehrung aller sittlichen Begriffe. Ein Jahrhundert
hindurch hatte die spanische Politik dem europäischen Continent Gesetze vor¬
schreiben wollen, und jetzt ergab sich, daß sie die bescheidensten Aufgaben all¬
täglicher Regierungskunst ungelöst gelassen. Als Karl der Fünfte die Negierung
angetreten, Halle das Land zehn Millionen Einwohner gezählt, am Ende des
sechzehnten Jahrhunderts zählte es nicht viel über acht, am Ende des siebzehnten
(vgl. zu dem Nächstfolgenden Baumgarten, Gesch. Spaniens S. 8 bis 30)
nicht viel über sechsthalb Millionen. In Castilien und Toledo gab es 710 Ort¬
schaften, deren Bevölkerung verschwunden war, Estremadura glich einer großen
Wüste, in Alava lag ein Drittheil der Ländereien brach, im gesegneten Anda¬
lusien reiste man oft sechs Meilen weit, ohne eine menschliche Wohnung oder
einen bebauten Acker zu erblicken. Die Industrie hatte fast ganz aufgehört, und
beinahe der ganze Haushalt des Spaniers wurde durch die Arbeit von Fremden
veisorgt, so daß das von Amerika einströmende Geld sofort wieder ins Ausland
abfloß. Die Steuerkraft des Volkes war auf ein Minimum herabgekommen,
der Staatsschatz ließ die Soldaten auf den Straßen, ihre Generale in den Vor-


tard die Kirche. Sie umgab die ausschließlich nach außen gerichtete Thätigkeit
des Volkes und die herrschsüchtige Politik seiner Lenker mit der Glorie des
Dienstes für den heiligen Glauben, sie rottete das Verständniß für eine wirk¬
lich sittliche Lebenspraxis aus, schrieb der Wissenschaft die engsten Schranken
vor, erfüllte die Welt mit Mirakeln, Reliquien und andrer frommer Magie,
mit Klöstern und Bruderschaften aller Art, beherrschte alles und beutete alles
aus. Halb Ritter, halb Mönch war die Signatur der Spanier des siebzehnten
Jahrhunderts. Das gläubige Volk gab sich ganz in die Hand seiner Priester,
es dachte und wollte nichts, als was der Kirche genehm war.

Die Folge jener Politik der Habsburgischen Könige, der Einwirkung der
Kirche und der Hingebung der Nation an beide war ein beispielloser politischer,
wirthschaftlicher und sittlicher Verfall. Als um die Mitte des siebzehnten Jahr¬
hunderts der große Glaubenskampf, welcher Europa ein volles Säculum er¬
schüttert, dem Frieden wich, war kein Staat so schwer geschädigt als Spanien.
Hundert Jahre hindurch hatten seine Feldherrn und Statthalter über die Mittel
eines beträchtlichen Theils Europas verfügt, seine Heere von fremdem Gut
gezehrt, keine fremde Armee seinen Boden betreten, und doch war in dieser
Zeit das Land auf weite Strecken hin verödet, Aecker, Flüsse und Häfen ver¬
einsamt, die Städte verfallen. Unermeßliche Schätze der neuen Welt, Staatsflotten
mit Silber beladen, schwere Lasten von Gold und edlen Steinen in den Truhen
von Privatleuten waren alljährlich an seinen Küsten gelandet, und doch war
es das ärmste und verschuldetste Land in Europa. Fast ausschließlich hatte das
Volk sein Dichten und Trachten auf sein Seelenheil gerichtet, und nun gab
es nirgends einen liederlicheren Adel, einen nichtsnutzigeren Beamtenstand, eine
trostlosere Zerrüttung und Verkehrung aller sittlichen Begriffe. Ein Jahrhundert
hindurch hatte die spanische Politik dem europäischen Continent Gesetze vor¬
schreiben wollen, und jetzt ergab sich, daß sie die bescheidensten Aufgaben all¬
täglicher Regierungskunst ungelöst gelassen. Als Karl der Fünfte die Negierung
angetreten, Halle das Land zehn Millionen Einwohner gezählt, am Ende des
sechzehnten Jahrhunderts zählte es nicht viel über acht, am Ende des siebzehnten
(vgl. zu dem Nächstfolgenden Baumgarten, Gesch. Spaniens S. 8 bis 30)
nicht viel über sechsthalb Millionen. In Castilien und Toledo gab es 710 Ort¬
schaften, deren Bevölkerung verschwunden war, Estremadura glich einer großen
Wüste, in Alava lag ein Drittheil der Ländereien brach, im gesegneten Anda¬
lusien reiste man oft sechs Meilen weit, ohne eine menschliche Wohnung oder
einen bebauten Acker zu erblicken. Die Industrie hatte fast ganz aufgehört, und
beinahe der ganze Haushalt des Spaniers wurde durch die Arbeit von Fremden
veisorgt, so daß das von Amerika einströmende Geld sofort wieder ins Ausland
abfloß. Die Steuerkraft des Volkes war auf ein Minimum herabgekommen,
der Staatsschatz ließ die Soldaten auf den Straßen, ihre Generale in den Vor-


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[0184] tard die Kirche. Sie umgab die ausschließlich nach außen gerichtete Thätigkeit des Volkes und die herrschsüchtige Politik seiner Lenker mit der Glorie des Dienstes für den heiligen Glauben, sie rottete das Verständniß für eine wirk¬ lich sittliche Lebenspraxis aus, schrieb der Wissenschaft die engsten Schranken vor, erfüllte die Welt mit Mirakeln, Reliquien und andrer frommer Magie, mit Klöstern und Bruderschaften aller Art, beherrschte alles und beutete alles aus. Halb Ritter, halb Mönch war die Signatur der Spanier des siebzehnten Jahrhunderts. Das gläubige Volk gab sich ganz in die Hand seiner Priester, es dachte und wollte nichts, als was der Kirche genehm war. Die Folge jener Politik der Habsburgischen Könige, der Einwirkung der Kirche und der Hingebung der Nation an beide war ein beispielloser politischer, wirthschaftlicher und sittlicher Verfall. Als um die Mitte des siebzehnten Jahr¬ hunderts der große Glaubenskampf, welcher Europa ein volles Säculum er¬ schüttert, dem Frieden wich, war kein Staat so schwer geschädigt als Spanien. Hundert Jahre hindurch hatten seine Feldherrn und Statthalter über die Mittel eines beträchtlichen Theils Europas verfügt, seine Heere von fremdem Gut gezehrt, keine fremde Armee seinen Boden betreten, und doch war in dieser Zeit das Land auf weite Strecken hin verödet, Aecker, Flüsse und Häfen ver¬ einsamt, die Städte verfallen. Unermeßliche Schätze der neuen Welt, Staatsflotten mit Silber beladen, schwere Lasten von Gold und edlen Steinen in den Truhen von Privatleuten waren alljährlich an seinen Küsten gelandet, und doch war es das ärmste und verschuldetste Land in Europa. Fast ausschließlich hatte das Volk sein Dichten und Trachten auf sein Seelenheil gerichtet, und nun gab es nirgends einen liederlicheren Adel, einen nichtsnutzigeren Beamtenstand, eine trostlosere Zerrüttung und Verkehrung aller sittlichen Begriffe. Ein Jahrhundert hindurch hatte die spanische Politik dem europäischen Continent Gesetze vor¬ schreiben wollen, und jetzt ergab sich, daß sie die bescheidensten Aufgaben all¬ täglicher Regierungskunst ungelöst gelassen. Als Karl der Fünfte die Negierung angetreten, Halle das Land zehn Millionen Einwohner gezählt, am Ende des sechzehnten Jahrhunderts zählte es nicht viel über acht, am Ende des siebzehnten (vgl. zu dem Nächstfolgenden Baumgarten, Gesch. Spaniens S. 8 bis 30) nicht viel über sechsthalb Millionen. In Castilien und Toledo gab es 710 Ort¬ schaften, deren Bevölkerung verschwunden war, Estremadura glich einer großen Wüste, in Alava lag ein Drittheil der Ländereien brach, im gesegneten Anda¬ lusien reiste man oft sechs Meilen weit, ohne eine menschliche Wohnung oder einen bebauten Acker zu erblicken. Die Industrie hatte fast ganz aufgehört, und beinahe der ganze Haushalt des Spaniers wurde durch die Arbeit von Fremden veisorgt, so daß das von Amerika einströmende Geld sofort wieder ins Ausland abfloß. Die Steuerkraft des Volkes war auf ein Minimum herabgekommen, der Staatsschatz ließ die Soldaten auf den Straßen, ihre Generale in den Vor-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_284469/184>, abgerufen am 29.06.2024.