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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. I. Band.

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mäßiger und gebildeter Sprache kommt dem Dichter aus den kleinen Kreisen
des Volkes kaum noch zu Gute, Denn auch für seine Empfindung ist die
Schriftsprache des Gebildeten die vornehme geworden, welche er bei gewählter
Rede zu gebrauchen verpflichtet ist. Sie ist es, welche seine Seele während
der Lectüre jedes Buches, beim Anhören jeder Predigt, beim Singen jedes Ge¬
sangbuchverses mit Wort und Ausdruck für solche Stimmungen versieht, welche
er in der Rede des Tagesverkehrs auszusprechen nicht geübt ist. Am tiefsten
empfindet grade der talentvolle Sohn des Volks den Drang nach dieser Bil¬
dung, welche ihn in den großen Verkehr der Welt einbürgert. Grade ihm er¬
scheint deshalb die landläufige Sprechweise seiner Umgebung als gewöhnlich
und unpoetisch, und er ist sorglich bemüht, in seinen Gedichten die Gewandt¬
heit gebildeten Ausdrucks zu erweisen. Deshalb ist natürlich, daß grade der
sogenannte Naturdichter sich weniger natürlich und unbefangen ausdrückt, als
der Gebildete. Auch nicht mehr die alten Volksweisen klingen bestimmend in
seiner Seele, sondern die Verse des Gesangbuches, der Gedichtsammlungen,
der geselligen Lieder, welche ihm gedruckt vorliegen. Nach ihrer Weise schafft
er; den kernigen Ausdruck seiner Volkssprache vermag er mit der Feder nicht
leicht festzuhalten; aber poetische Phrasen, welche uns alltäglich sind, machen ihm
noch den Eindruck des Erhabenen, er ringt in der ihm nicht ganz heimischen
Sprechweise mit dem Ausdruck und wird Flickwörter und matte Stellen schwer¬
lich vermeiden. Deshalb hat die sogenannte Naturpoesie für unsre Kunst nur
selten eine Bedeutung, und es'ist keine Aussicht, daß dies jemals anders werde.
Nur hohe und freie Bildung vermag noch die Sprache, welche wir verwenden,
poetisch zu idealisiren und dem geistigen und gemüthlichen Inhalt unseres Volks-
thums reichen Ausdruck zu geben.

Aber ein anderes menschliches Interesse wird durch jedes poetische Streben
im engbegrenzten Kreise lebhaft in Anspruch genommen. Mit warmer Theil¬
nahme beobachten wir das geistige Schaffen eines Mannes, der unter dem
Druck der Noth und kraftzermaimender Arbeit sich die innere Freiheit und
Heiterkeit rettet, welche der poetischen Gestaltung nothwendig sind. Ihm
ist die Poesie noch in andrer Weise als uns die schöne Göttin, welche
die enge Wohnung mit überirdischem Glänze schmückt; sie giebt seinem
innern Leben Reichthümer, die wir kaum zu schätzen wissen, und mit heimlichem
Stolz trägt er den unsichtbaren Kranz, den sie auf sein Haupt drückt, in seinem
Hause und unter den Genossen seiner Arbeit. Sein ganzes Leben fühlt er
durch den Verkehr mit seiner Muse geadelt, und die Freude, mit der er dichtet,
ist wahrscheinlich das idealste Gefühl seines Lebens. Gelingt ihm einmal, seiner
wogenden Empfindung originellen Ausdruck zu geben, so wird auch sein Gedicht
für uns besonderen Reiz erhalten.

Vor uns liegen zwei kleine Gedichtsammlungen, deren Verfasser verdienen,


mäßiger und gebildeter Sprache kommt dem Dichter aus den kleinen Kreisen
des Volkes kaum noch zu Gute, Denn auch für seine Empfindung ist die
Schriftsprache des Gebildeten die vornehme geworden, welche er bei gewählter
Rede zu gebrauchen verpflichtet ist. Sie ist es, welche seine Seele während
der Lectüre jedes Buches, beim Anhören jeder Predigt, beim Singen jedes Ge¬
sangbuchverses mit Wort und Ausdruck für solche Stimmungen versieht, welche
er in der Rede des Tagesverkehrs auszusprechen nicht geübt ist. Am tiefsten
empfindet grade der talentvolle Sohn des Volks den Drang nach dieser Bil¬
dung, welche ihn in den großen Verkehr der Welt einbürgert. Grade ihm er¬
scheint deshalb die landläufige Sprechweise seiner Umgebung als gewöhnlich
und unpoetisch, und er ist sorglich bemüht, in seinen Gedichten die Gewandt¬
heit gebildeten Ausdrucks zu erweisen. Deshalb ist natürlich, daß grade der
sogenannte Naturdichter sich weniger natürlich und unbefangen ausdrückt, als
der Gebildete. Auch nicht mehr die alten Volksweisen klingen bestimmend in
seiner Seele, sondern die Verse des Gesangbuches, der Gedichtsammlungen,
der geselligen Lieder, welche ihm gedruckt vorliegen. Nach ihrer Weise schafft
er; den kernigen Ausdruck seiner Volkssprache vermag er mit der Feder nicht
leicht festzuhalten; aber poetische Phrasen, welche uns alltäglich sind, machen ihm
noch den Eindruck des Erhabenen, er ringt in der ihm nicht ganz heimischen
Sprechweise mit dem Ausdruck und wird Flickwörter und matte Stellen schwer¬
lich vermeiden. Deshalb hat die sogenannte Naturpoesie für unsre Kunst nur
selten eine Bedeutung, und es'ist keine Aussicht, daß dies jemals anders werde.
Nur hohe und freie Bildung vermag noch die Sprache, welche wir verwenden,
poetisch zu idealisiren und dem geistigen und gemüthlichen Inhalt unseres Volks-
thums reichen Ausdruck zu geben.

Aber ein anderes menschliches Interesse wird durch jedes poetische Streben
im engbegrenzten Kreise lebhaft in Anspruch genommen. Mit warmer Theil¬
nahme beobachten wir das geistige Schaffen eines Mannes, der unter dem
Druck der Noth und kraftzermaimender Arbeit sich die innere Freiheit und
Heiterkeit rettet, welche der poetischen Gestaltung nothwendig sind. Ihm
ist die Poesie noch in andrer Weise als uns die schöne Göttin, welche
die enge Wohnung mit überirdischem Glänze schmückt; sie giebt seinem
innern Leben Reichthümer, die wir kaum zu schätzen wissen, und mit heimlichem
Stolz trägt er den unsichtbaren Kranz, den sie auf sein Haupt drückt, in seinem
Hause und unter den Genossen seiner Arbeit. Sein ganzes Leben fühlt er
durch den Verkehr mit seiner Muse geadelt, und die Freude, mit der er dichtet,
ist wahrscheinlich das idealste Gefühl seines Lebens. Gelingt ihm einmal, seiner
wogenden Empfindung originellen Ausdruck zu geben, so wird auch sein Gedicht
für uns besonderen Reiz erhalten.

Vor uns liegen zwei kleine Gedichtsammlungen, deren Verfasser verdienen,


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[0121] mäßiger und gebildeter Sprache kommt dem Dichter aus den kleinen Kreisen des Volkes kaum noch zu Gute, Denn auch für seine Empfindung ist die Schriftsprache des Gebildeten die vornehme geworden, welche er bei gewählter Rede zu gebrauchen verpflichtet ist. Sie ist es, welche seine Seele während der Lectüre jedes Buches, beim Anhören jeder Predigt, beim Singen jedes Ge¬ sangbuchverses mit Wort und Ausdruck für solche Stimmungen versieht, welche er in der Rede des Tagesverkehrs auszusprechen nicht geübt ist. Am tiefsten empfindet grade der talentvolle Sohn des Volks den Drang nach dieser Bil¬ dung, welche ihn in den großen Verkehr der Welt einbürgert. Grade ihm er¬ scheint deshalb die landläufige Sprechweise seiner Umgebung als gewöhnlich und unpoetisch, und er ist sorglich bemüht, in seinen Gedichten die Gewandt¬ heit gebildeten Ausdrucks zu erweisen. Deshalb ist natürlich, daß grade der sogenannte Naturdichter sich weniger natürlich und unbefangen ausdrückt, als der Gebildete. Auch nicht mehr die alten Volksweisen klingen bestimmend in seiner Seele, sondern die Verse des Gesangbuches, der Gedichtsammlungen, der geselligen Lieder, welche ihm gedruckt vorliegen. Nach ihrer Weise schafft er; den kernigen Ausdruck seiner Volkssprache vermag er mit der Feder nicht leicht festzuhalten; aber poetische Phrasen, welche uns alltäglich sind, machen ihm noch den Eindruck des Erhabenen, er ringt in der ihm nicht ganz heimischen Sprechweise mit dem Ausdruck und wird Flickwörter und matte Stellen schwer¬ lich vermeiden. Deshalb hat die sogenannte Naturpoesie für unsre Kunst nur selten eine Bedeutung, und es'ist keine Aussicht, daß dies jemals anders werde. Nur hohe und freie Bildung vermag noch die Sprache, welche wir verwenden, poetisch zu idealisiren und dem geistigen und gemüthlichen Inhalt unseres Volks- thums reichen Ausdruck zu geben. Aber ein anderes menschliches Interesse wird durch jedes poetische Streben im engbegrenzten Kreise lebhaft in Anspruch genommen. Mit warmer Theil¬ nahme beobachten wir das geistige Schaffen eines Mannes, der unter dem Druck der Noth und kraftzermaimender Arbeit sich die innere Freiheit und Heiterkeit rettet, welche der poetischen Gestaltung nothwendig sind. Ihm ist die Poesie noch in andrer Weise als uns die schöne Göttin, welche die enge Wohnung mit überirdischem Glänze schmückt; sie giebt seinem innern Leben Reichthümer, die wir kaum zu schätzen wissen, und mit heimlichem Stolz trägt er den unsichtbaren Kranz, den sie auf sein Haupt drückt, in seinem Hause und unter den Genossen seiner Arbeit. Sein ganzes Leben fühlt er durch den Verkehr mit seiner Muse geadelt, und die Freude, mit der er dichtet, ist wahrscheinlich das idealste Gefühl seines Lebens. Gelingt ihm einmal, seiner wogenden Empfindung originellen Ausdruck zu geben, so wird auch sein Gedicht für uns besonderen Reiz erhalten. Vor uns liegen zwei kleine Gedichtsammlungen, deren Verfasser verdienen,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_284469/121>, abgerufen am 29.06.2024.