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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. I. Band.

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IN die Schriftsprache aufgenommenen Wortbegriffe bewahren, solche Neben¬
bedeutungen, wie sie grade der Dichter am schmerzlichsten entbehrt. Unsere
Schriftsprache enthält ferner nur den Niederschlag unserer bisherigen Cultur,
sie ist vorzugsweise durch Gelehrte und die poetischen Richtungen der letzten
Jahrhunderte, außerdem durch die Bedürfnisse des Geschäftslebens gestaltet
worden. Die Wucht politischer Beredsamkeit, die Grazie, feinen, geselligen
Verkehrs, die Kraft des Humors sind ihr nur selten zu gut gekommen, und sie
ist nach mancher Richtung ungelenk und arm, zuweilen noch pedantisch, in
Energie und Fülle der Stärkung bedürftig. Auch besteht neben ihr in jedem
deutschen Stamm eine Volkssprache, welche schöne Besonderheiten bewahrt hat,
und außer eigenen Wörtern und Dialektformen auch noch ein anderes Sprach¬
gefühl zu verwenden gewöhnt ist. Denn während die alte bildliche Bedeutung
zahlloser Wörter in der Schriftsprache sast verschwunden ist, und Worte wie
abgegriffene Münzen nur zur Bezeichnung eines vergeistigter Begriffes dienen,
bewahrt das Volk in vielen Fällen noch eine Empfindung für die ursprünglich
sinnliche Bedeutung der Wörter und gebraucht dieselben bedeutsamer und bild¬
licher als der Gebildete. Bei dem Wort Ausschweifung sieht der Mann aus
dem Volte noch das Bild des geraden Weges vor sich, um welchen der Aus¬
schweifende seine Bogen beschreibt, mit dem Wort "Schwermuth" bezeichnet er
noch den Druck einer geheimnißvollen Last, welche auf dem Gemüthe liegt, vor
dem Wort "Bündniß" hat er noch dunkle Erinnerung an ein Band, welches
symbolisch zwei Zusammengehörige aneinanderschließt, bei dem Wort "Schluß"
steigt in ihm noch die Nebenvorstellung der Kette oder des Riegels aus, welche
eine Thür zusperren. Deshalb verwendet unser Volk seine Sprache noch mit
einem gewissen poetischen Genuß, welcher der Rede des Gebildeten fehlt. Wer
einmal zuhört, wie Landleute einander schrauben und welchen Werth sie dar¬
auf legen, neckendem Angriff durch behende Gegenrede zu antworten, der
wird beobachten, daß dieses Witzspiel der Rede zum großen Theil auf dem
Hervorheben der alten, sinnlichen Wortbedeutungen beruht und >n seinen Fein¬
heiten dem Gebildeten nur verständlich wird, wenn er sich in die alte, volks¬
tümliche Ausfassung der Wörter zu versetzen vermag. -- Sogar ein eigenthüm¬
liches rhythmisches und Melodiengefühl ist unserem Volke noch nicht geschwunden.
Denn in den Weisen der Volkslieder, welche noch gesungen werden, und in den
Versen, welche in neuer Zeit alten Liedern eingedichtet wurden, erkennt man
noch ein unsicheres Gefühl für die Hebungen und Senkungen und die Vers-
accente der mittelalterlichen Dichtung, in entschiedenem Gegensatz zu der neuen
Versbildung, welche seit dem Ende des sechszehnten Jahrhunderts durch die
Gelehrten unter dem Einfluß lateinischer Metrik in die Sprache geleitet
wurde.

Aber diese Verschiedenheit des Sprachsinns und Klanggefühls in Volks-


IN die Schriftsprache aufgenommenen Wortbegriffe bewahren, solche Neben¬
bedeutungen, wie sie grade der Dichter am schmerzlichsten entbehrt. Unsere
Schriftsprache enthält ferner nur den Niederschlag unserer bisherigen Cultur,
sie ist vorzugsweise durch Gelehrte und die poetischen Richtungen der letzten
Jahrhunderte, außerdem durch die Bedürfnisse des Geschäftslebens gestaltet
worden. Die Wucht politischer Beredsamkeit, die Grazie, feinen, geselligen
Verkehrs, die Kraft des Humors sind ihr nur selten zu gut gekommen, und sie
ist nach mancher Richtung ungelenk und arm, zuweilen noch pedantisch, in
Energie und Fülle der Stärkung bedürftig. Auch besteht neben ihr in jedem
deutschen Stamm eine Volkssprache, welche schöne Besonderheiten bewahrt hat,
und außer eigenen Wörtern und Dialektformen auch noch ein anderes Sprach¬
gefühl zu verwenden gewöhnt ist. Denn während die alte bildliche Bedeutung
zahlloser Wörter in der Schriftsprache sast verschwunden ist, und Worte wie
abgegriffene Münzen nur zur Bezeichnung eines vergeistigter Begriffes dienen,
bewahrt das Volk in vielen Fällen noch eine Empfindung für die ursprünglich
sinnliche Bedeutung der Wörter und gebraucht dieselben bedeutsamer und bild¬
licher als der Gebildete. Bei dem Wort Ausschweifung sieht der Mann aus
dem Volte noch das Bild des geraden Weges vor sich, um welchen der Aus¬
schweifende seine Bogen beschreibt, mit dem Wort „Schwermuth" bezeichnet er
noch den Druck einer geheimnißvollen Last, welche auf dem Gemüthe liegt, vor
dem Wort „Bündniß" hat er noch dunkle Erinnerung an ein Band, welches
symbolisch zwei Zusammengehörige aneinanderschließt, bei dem Wort „Schluß"
steigt in ihm noch die Nebenvorstellung der Kette oder des Riegels aus, welche
eine Thür zusperren. Deshalb verwendet unser Volk seine Sprache noch mit
einem gewissen poetischen Genuß, welcher der Rede des Gebildeten fehlt. Wer
einmal zuhört, wie Landleute einander schrauben und welchen Werth sie dar¬
auf legen, neckendem Angriff durch behende Gegenrede zu antworten, der
wird beobachten, daß dieses Witzspiel der Rede zum großen Theil auf dem
Hervorheben der alten, sinnlichen Wortbedeutungen beruht und >n seinen Fein¬
heiten dem Gebildeten nur verständlich wird, wenn er sich in die alte, volks¬
tümliche Ausfassung der Wörter zu versetzen vermag. — Sogar ein eigenthüm¬
liches rhythmisches und Melodiengefühl ist unserem Volke noch nicht geschwunden.
Denn in den Weisen der Volkslieder, welche noch gesungen werden, und in den
Versen, welche in neuer Zeit alten Liedern eingedichtet wurden, erkennt man
noch ein unsicheres Gefühl für die Hebungen und Senkungen und die Vers-
accente der mittelalterlichen Dichtung, in entschiedenem Gegensatz zu der neuen
Versbildung, welche seit dem Ende des sechszehnten Jahrhunderts durch die
Gelehrten unter dem Einfluß lateinischer Metrik in die Sprache geleitet
wurde.

Aber diese Verschiedenheit des Sprachsinns und Klanggefühls in Volks-


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[0120] IN die Schriftsprache aufgenommenen Wortbegriffe bewahren, solche Neben¬ bedeutungen, wie sie grade der Dichter am schmerzlichsten entbehrt. Unsere Schriftsprache enthält ferner nur den Niederschlag unserer bisherigen Cultur, sie ist vorzugsweise durch Gelehrte und die poetischen Richtungen der letzten Jahrhunderte, außerdem durch die Bedürfnisse des Geschäftslebens gestaltet worden. Die Wucht politischer Beredsamkeit, die Grazie, feinen, geselligen Verkehrs, die Kraft des Humors sind ihr nur selten zu gut gekommen, und sie ist nach mancher Richtung ungelenk und arm, zuweilen noch pedantisch, in Energie und Fülle der Stärkung bedürftig. Auch besteht neben ihr in jedem deutschen Stamm eine Volkssprache, welche schöne Besonderheiten bewahrt hat, und außer eigenen Wörtern und Dialektformen auch noch ein anderes Sprach¬ gefühl zu verwenden gewöhnt ist. Denn während die alte bildliche Bedeutung zahlloser Wörter in der Schriftsprache sast verschwunden ist, und Worte wie abgegriffene Münzen nur zur Bezeichnung eines vergeistigter Begriffes dienen, bewahrt das Volk in vielen Fällen noch eine Empfindung für die ursprünglich sinnliche Bedeutung der Wörter und gebraucht dieselben bedeutsamer und bild¬ licher als der Gebildete. Bei dem Wort Ausschweifung sieht der Mann aus dem Volte noch das Bild des geraden Weges vor sich, um welchen der Aus¬ schweifende seine Bogen beschreibt, mit dem Wort „Schwermuth" bezeichnet er noch den Druck einer geheimnißvollen Last, welche auf dem Gemüthe liegt, vor dem Wort „Bündniß" hat er noch dunkle Erinnerung an ein Band, welches symbolisch zwei Zusammengehörige aneinanderschließt, bei dem Wort „Schluß" steigt in ihm noch die Nebenvorstellung der Kette oder des Riegels aus, welche eine Thür zusperren. Deshalb verwendet unser Volk seine Sprache noch mit einem gewissen poetischen Genuß, welcher der Rede des Gebildeten fehlt. Wer einmal zuhört, wie Landleute einander schrauben und welchen Werth sie dar¬ auf legen, neckendem Angriff durch behende Gegenrede zu antworten, der wird beobachten, daß dieses Witzspiel der Rede zum großen Theil auf dem Hervorheben der alten, sinnlichen Wortbedeutungen beruht und >n seinen Fein¬ heiten dem Gebildeten nur verständlich wird, wenn er sich in die alte, volks¬ tümliche Ausfassung der Wörter zu versetzen vermag. — Sogar ein eigenthüm¬ liches rhythmisches und Melodiengefühl ist unserem Volke noch nicht geschwunden. Denn in den Weisen der Volkslieder, welche noch gesungen werden, und in den Versen, welche in neuer Zeit alten Liedern eingedichtet wurden, erkennt man noch ein unsicheres Gefühl für die Hebungen und Senkungen und die Vers- accente der mittelalterlichen Dichtung, in entschiedenem Gegensatz zu der neuen Versbildung, welche seit dem Ende des sechszehnten Jahrhunderts durch die Gelehrten unter dem Einfluß lateinischer Metrik in die Sprache geleitet wurde. Aber diese Verschiedenheit des Sprachsinns und Klanggefühls in Volks-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_284469/120>, abgerufen am 29.06.2024.