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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. I. Band.

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Zwei deutsche Naturdichter.

Es soll hier von Dichtern aus dem Volk die Rede sein, von zwei kleine"
Singvögeln eigener Art. bescheidenen Zaunschlüpfern.

Da nun die Kritik aus gutem Grunde sich enthalten wird, auf die Kehlen
dieser Sänger los zu fahren, so möge man verstatten, daß sie angebornen
Grimm nach andrer Richtung kundgebe, und ihre Krallen zuerst gegen das
Wort Naturdichter ausstrecke. Diese landesübliche Bezeichnung für solche
Dichter aus dem Volke, welche nicht mitten in dem tiefen Strom unsrer Bil¬
dung stehen, ist unpassend erfunden. Denn unsre Cultur soll die poetische Natur¬
kraft nicht dämpfen, sondern ihr grade Licht und Luft zu gesunder Entfaltung
geben. Wer den Segen unsrer Bildung nur unvollständig für sich gewonnen,
dem wird, so lehrt die Erfahrung, die angeborne Kraft keineswegs freier und"
ungebundner arbeiten, sie wird im Gegentheil nur mangelhaft zur Erscheinung
kommen. In diesem Sinne hat bei uns der Unterschied zwischen vvlkSmäßiger
und kunstvoller Poesie längst aufgehört. Allerdings hat er durch fast andert¬
halb Jahrtausende bestanden. Es hat sehr entfernte Zeiten gegeben, wo alle
Poesie volksmäßiz war; nach dem Eindringen des Christenthums in die deut¬
sche Seele andre Jahrhunderte, wo die Poesie der Gebildeten Deutschlands
gar nicht deutsch war. sondern lateinisch; bann die Hohenstaufenzeit, in welcher
eine volksthümliche und gebildete Poesie getrennt neveneinanderliesen, so zwar,
daß jede die andre beeinflußte, aber für das Ohr der Zeitgenossen doch sehr
verschieden in Melodie. Versmaß, in Methode der Schilderung und in dem
Gebiet der Stoffe. Dann kamen wieder Jahrhunderte, wo die anspruchsvolle
Kunst der Hochgebildeten in den Stuben der zünftigen Handwerker zum behag¬
lichen Besitz des Volkes umgeformt wurde, wo alle poetische Kunst gering
wurde und auch der alte Volksgesang seine feine Gesetzlichkeit verlor. Seit
endlich die neuhochdeutsche Schriftsprache durch Luther und die Reformation die
Gedanken der Menschen in ihre Satzbildung und ihren Wortschatz zwang, ist
allmälig nach manchem Kampfe die Sprache der Gebildeten der einzig schrift-
mäßige Ausdruck für Gedanken und Gemüthszustände auch des Volkes gewor¬
den. Selbst wer im Dialekt dichtete, that dies in der Regel nur dann mit
Erfolg, wenn er ein gebildeter Mann war, der mit Bewußtsein das Charakte¬
ristische des Dialekts, die Klangfarbe. Wortfüllc und naive Frische zu künst-
lerischer Wirkung benutzte.

Nun ist unsere Cultursprache noch weit davon entfernt, für das gesammte
Empfinden der Nation vollen Ausdruck darzubieten. Ihr Wortreichthum ist
begrenzt, fast zahllos ist die Menge schöner, alter Wörter, welche nur in der
Sprache der einzelnen Stämme lebendig blieben, und welche Schattirungen der


Zwei deutsche Naturdichter.

Es soll hier von Dichtern aus dem Volk die Rede sein, von zwei kleine»
Singvögeln eigener Art. bescheidenen Zaunschlüpfern.

Da nun die Kritik aus gutem Grunde sich enthalten wird, auf die Kehlen
dieser Sänger los zu fahren, so möge man verstatten, daß sie angebornen
Grimm nach andrer Richtung kundgebe, und ihre Krallen zuerst gegen das
Wort Naturdichter ausstrecke. Diese landesübliche Bezeichnung für solche
Dichter aus dem Volke, welche nicht mitten in dem tiefen Strom unsrer Bil¬
dung stehen, ist unpassend erfunden. Denn unsre Cultur soll die poetische Natur¬
kraft nicht dämpfen, sondern ihr grade Licht und Luft zu gesunder Entfaltung
geben. Wer den Segen unsrer Bildung nur unvollständig für sich gewonnen,
dem wird, so lehrt die Erfahrung, die angeborne Kraft keineswegs freier und"
ungebundner arbeiten, sie wird im Gegentheil nur mangelhaft zur Erscheinung
kommen. In diesem Sinne hat bei uns der Unterschied zwischen vvlkSmäßiger
und kunstvoller Poesie längst aufgehört. Allerdings hat er durch fast andert¬
halb Jahrtausende bestanden. Es hat sehr entfernte Zeiten gegeben, wo alle
Poesie volksmäßiz war; nach dem Eindringen des Christenthums in die deut¬
sche Seele andre Jahrhunderte, wo die Poesie der Gebildeten Deutschlands
gar nicht deutsch war. sondern lateinisch; bann die Hohenstaufenzeit, in welcher
eine volksthümliche und gebildete Poesie getrennt neveneinanderliesen, so zwar,
daß jede die andre beeinflußte, aber für das Ohr der Zeitgenossen doch sehr
verschieden in Melodie. Versmaß, in Methode der Schilderung und in dem
Gebiet der Stoffe. Dann kamen wieder Jahrhunderte, wo die anspruchsvolle
Kunst der Hochgebildeten in den Stuben der zünftigen Handwerker zum behag¬
lichen Besitz des Volkes umgeformt wurde, wo alle poetische Kunst gering
wurde und auch der alte Volksgesang seine feine Gesetzlichkeit verlor. Seit
endlich die neuhochdeutsche Schriftsprache durch Luther und die Reformation die
Gedanken der Menschen in ihre Satzbildung und ihren Wortschatz zwang, ist
allmälig nach manchem Kampfe die Sprache der Gebildeten der einzig schrift-
mäßige Ausdruck für Gedanken und Gemüthszustände auch des Volkes gewor¬
den. Selbst wer im Dialekt dichtete, that dies in der Regel nur dann mit
Erfolg, wenn er ein gebildeter Mann war, der mit Bewußtsein das Charakte¬
ristische des Dialekts, die Klangfarbe. Wortfüllc und naive Frische zu künst-
lerischer Wirkung benutzte.

Nun ist unsere Cultursprache noch weit davon entfernt, für das gesammte
Empfinden der Nation vollen Ausdruck darzubieten. Ihr Wortreichthum ist
begrenzt, fast zahllos ist die Menge schöner, alter Wörter, welche nur in der
Sprache der einzelnen Stämme lebendig blieben, und welche Schattirungen der


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[0119] Zwei deutsche Naturdichter. Es soll hier von Dichtern aus dem Volk die Rede sein, von zwei kleine» Singvögeln eigener Art. bescheidenen Zaunschlüpfern. Da nun die Kritik aus gutem Grunde sich enthalten wird, auf die Kehlen dieser Sänger los zu fahren, so möge man verstatten, daß sie angebornen Grimm nach andrer Richtung kundgebe, und ihre Krallen zuerst gegen das Wort Naturdichter ausstrecke. Diese landesübliche Bezeichnung für solche Dichter aus dem Volke, welche nicht mitten in dem tiefen Strom unsrer Bil¬ dung stehen, ist unpassend erfunden. Denn unsre Cultur soll die poetische Natur¬ kraft nicht dämpfen, sondern ihr grade Licht und Luft zu gesunder Entfaltung geben. Wer den Segen unsrer Bildung nur unvollständig für sich gewonnen, dem wird, so lehrt die Erfahrung, die angeborne Kraft keineswegs freier und" ungebundner arbeiten, sie wird im Gegentheil nur mangelhaft zur Erscheinung kommen. In diesem Sinne hat bei uns der Unterschied zwischen vvlkSmäßiger und kunstvoller Poesie längst aufgehört. Allerdings hat er durch fast andert¬ halb Jahrtausende bestanden. Es hat sehr entfernte Zeiten gegeben, wo alle Poesie volksmäßiz war; nach dem Eindringen des Christenthums in die deut¬ sche Seele andre Jahrhunderte, wo die Poesie der Gebildeten Deutschlands gar nicht deutsch war. sondern lateinisch; bann die Hohenstaufenzeit, in welcher eine volksthümliche und gebildete Poesie getrennt neveneinanderliesen, so zwar, daß jede die andre beeinflußte, aber für das Ohr der Zeitgenossen doch sehr verschieden in Melodie. Versmaß, in Methode der Schilderung und in dem Gebiet der Stoffe. Dann kamen wieder Jahrhunderte, wo die anspruchsvolle Kunst der Hochgebildeten in den Stuben der zünftigen Handwerker zum behag¬ lichen Besitz des Volkes umgeformt wurde, wo alle poetische Kunst gering wurde und auch der alte Volksgesang seine feine Gesetzlichkeit verlor. Seit endlich die neuhochdeutsche Schriftsprache durch Luther und die Reformation die Gedanken der Menschen in ihre Satzbildung und ihren Wortschatz zwang, ist allmälig nach manchem Kampfe die Sprache der Gebildeten der einzig schrift- mäßige Ausdruck für Gedanken und Gemüthszustände auch des Volkes gewor¬ den. Selbst wer im Dialekt dichtete, that dies in der Regel nur dann mit Erfolg, wenn er ein gebildeter Mann war, der mit Bewußtsein das Charakte¬ ristische des Dialekts, die Klangfarbe. Wortfüllc und naive Frische zu künst- lerischer Wirkung benutzte. Nun ist unsere Cultursprache noch weit davon entfernt, für das gesammte Empfinden der Nation vollen Ausdruck darzubieten. Ihr Wortreichthum ist begrenzt, fast zahllos ist die Menge schöner, alter Wörter, welche nur in der Sprache der einzelnen Stämme lebendig blieben, und welche Schattirungen der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_284469/119>, abgerufen am 29.06.2024.