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Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, II. Semester. I. Band.

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breitete Meinung, daß die Sichel nicht mehr schneide, wenn man dem Weber
für seine Arbeit an derselben jeweilen danke. Schneidet sich jemand in den
Finger -- und eine allgemeine Regel ist, daß ein rechter Schnitter sich neunmal
geschnitten haben müsse -- so wird ihm angerathen, drei Halme quer über¬
einander zu legen und darüber in den drei höchsten Namen bluten zu lassen;
auch das Nasenbluten wird auf diese Weise gestillt.

So oft ein Feld abgeschnitten ist, muß es von sämmtlichen Schnittern
"usghölet" (aufgejauchzt) werden. Hat ein Schnitter aus Versehen ein Büschel
Halme stehen lassen, so knüpft man dieselben oben zusammen und läßt sie so
ihm zum Spott ungeschnitten. Uebersieht er aber auch nur einen einzelnen
Halm, so hat der Finder desselben das Recht, eine Buße von ihm zu erheben.
Geht ein Fremder vorüber, so wird er "in die Halmen genommen". Man
umfängt ihn unversehens mit einer Schlinge von Halmen, bindet ihm auch
wohl einen Halm an den Rockknopf und hält ihn so lange fest, bis er sich
loskauft. Dasselbe geschieht dem Bauer oder der Bäuerin, sofern sie nur zum
Besuch auf das Feld kommen. Bon dem jüngsten "Hochzeiter" im Dorf wird
desgleichen, wo er sich eben sehen läßt, "etwas in die Halmen" d. h. ein Be¬
nefiz verlangt. So zieht man sich Zoll und Trinkgeld ein. Aber mit dem
Ueberschuß des Erntesegens wird der Arme bedacht; derjenige, welcher die Garbe
bindet, drückt noch insbesondre mit dem Knie auf jegliche Garbe, damit für die
Aehrenleser mehr Aehren abfallen. Ja die Aehrenleser werden gar nicht selten
mit dem gespeist und getränkt, was sich die Schnitter von ihrem eigenen Unter¬
halt abbrechen; überdies geht der Dorfwächter von Haus zu Haus und sammelt
Brot für die fremden Aehrenleser, und der Gutsherr selbst giebt ihnen Herberge.
Für die Armen bleibt ein Stück Feldes auch etwa ganz ungeschnitten. Auf
Verspottung oder sonstiger liebloser Behandlung der Aehrenleser liegt die gött¬
liche Strafe schweren Unsegens. Ein übermüthiger Bauer fragt einen Trupp
dieser Armen im Scheinton der Freigebigkeit: "Möget ihr Brot?" um, da sie
bejahend antworten, den rohen Witz zu machen: "Gut, so esset brav, wenn ihr
heimchömet!" Aber von Stund an hatte er selbst mit dem Hunger zu kämpfen.
Ja jeglicher Mißbrauch der Gottesgabe durch Wort oder Handlung steht unter
dem Fluch. So erzählt man sich, wie ein Vater zur Erntezeit sein Kind in
der Absicht, es für irgendein Versehen abzustrafen, mittelst Vorhaltens eines
Weißbrötchens zu sich gelockt und das so getäuschte Kind hierauf an eine in
der Nähe befindliche Eiche gebunden und gezüchtigt habe; nun sei der Teufel
in eigener Person erschienen und habe den Vater entführt; der Weg, den er
dabei quer durch das Feld genommen, sowie der Baum, an dem er die unna¬
türliche Strafe vollzogen, werden heute noch gezeigt; die Eiche ist seit Menschen¬
gedenren dürr und jener Fcldstrich unfruchtbar.

Wenn früher, zur Blüthezeit, der Wind bei schönem Wetter Wellen im


breitete Meinung, daß die Sichel nicht mehr schneide, wenn man dem Weber
für seine Arbeit an derselben jeweilen danke. Schneidet sich jemand in den
Finger — und eine allgemeine Regel ist, daß ein rechter Schnitter sich neunmal
geschnitten haben müsse — so wird ihm angerathen, drei Halme quer über¬
einander zu legen und darüber in den drei höchsten Namen bluten zu lassen;
auch das Nasenbluten wird auf diese Weise gestillt.

So oft ein Feld abgeschnitten ist, muß es von sämmtlichen Schnittern
„usghölet„ (aufgejauchzt) werden. Hat ein Schnitter aus Versehen ein Büschel
Halme stehen lassen, so knüpft man dieselben oben zusammen und läßt sie so
ihm zum Spott ungeschnitten. Uebersieht er aber auch nur einen einzelnen
Halm, so hat der Finder desselben das Recht, eine Buße von ihm zu erheben.
Geht ein Fremder vorüber, so wird er „in die Halmen genommen". Man
umfängt ihn unversehens mit einer Schlinge von Halmen, bindet ihm auch
wohl einen Halm an den Rockknopf und hält ihn so lange fest, bis er sich
loskauft. Dasselbe geschieht dem Bauer oder der Bäuerin, sofern sie nur zum
Besuch auf das Feld kommen. Bon dem jüngsten „Hochzeiter" im Dorf wird
desgleichen, wo er sich eben sehen läßt, „etwas in die Halmen" d. h. ein Be¬
nefiz verlangt. So zieht man sich Zoll und Trinkgeld ein. Aber mit dem
Ueberschuß des Erntesegens wird der Arme bedacht; derjenige, welcher die Garbe
bindet, drückt noch insbesondre mit dem Knie auf jegliche Garbe, damit für die
Aehrenleser mehr Aehren abfallen. Ja die Aehrenleser werden gar nicht selten
mit dem gespeist und getränkt, was sich die Schnitter von ihrem eigenen Unter¬
halt abbrechen; überdies geht der Dorfwächter von Haus zu Haus und sammelt
Brot für die fremden Aehrenleser, und der Gutsherr selbst giebt ihnen Herberge.
Für die Armen bleibt ein Stück Feldes auch etwa ganz ungeschnitten. Auf
Verspottung oder sonstiger liebloser Behandlung der Aehrenleser liegt die gött¬
liche Strafe schweren Unsegens. Ein übermüthiger Bauer fragt einen Trupp
dieser Armen im Scheinton der Freigebigkeit: „Möget ihr Brot?" um, da sie
bejahend antworten, den rohen Witz zu machen: „Gut, so esset brav, wenn ihr
heimchömet!" Aber von Stund an hatte er selbst mit dem Hunger zu kämpfen.
Ja jeglicher Mißbrauch der Gottesgabe durch Wort oder Handlung steht unter
dem Fluch. So erzählt man sich, wie ein Vater zur Erntezeit sein Kind in
der Absicht, es für irgendein Versehen abzustrafen, mittelst Vorhaltens eines
Weißbrötchens zu sich gelockt und das so getäuschte Kind hierauf an eine in
der Nähe befindliche Eiche gebunden und gezüchtigt habe; nun sei der Teufel
in eigener Person erschienen und habe den Vater entführt; der Weg, den er
dabei quer durch das Feld genommen, sowie der Baum, an dem er die unna¬
türliche Strafe vollzogen, werden heute noch gezeigt; die Eiche ist seit Menschen¬
gedenren dürr und jener Fcldstrich unfruchtbar.

Wenn früher, zur Blüthezeit, der Wind bei schönem Wetter Wellen im


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[0586] breitete Meinung, daß die Sichel nicht mehr schneide, wenn man dem Weber für seine Arbeit an derselben jeweilen danke. Schneidet sich jemand in den Finger — und eine allgemeine Regel ist, daß ein rechter Schnitter sich neunmal geschnitten haben müsse — so wird ihm angerathen, drei Halme quer über¬ einander zu legen und darüber in den drei höchsten Namen bluten zu lassen; auch das Nasenbluten wird auf diese Weise gestillt. So oft ein Feld abgeschnitten ist, muß es von sämmtlichen Schnittern „usghölet„ (aufgejauchzt) werden. Hat ein Schnitter aus Versehen ein Büschel Halme stehen lassen, so knüpft man dieselben oben zusammen und läßt sie so ihm zum Spott ungeschnitten. Uebersieht er aber auch nur einen einzelnen Halm, so hat der Finder desselben das Recht, eine Buße von ihm zu erheben. Geht ein Fremder vorüber, so wird er „in die Halmen genommen". Man umfängt ihn unversehens mit einer Schlinge von Halmen, bindet ihm auch wohl einen Halm an den Rockknopf und hält ihn so lange fest, bis er sich loskauft. Dasselbe geschieht dem Bauer oder der Bäuerin, sofern sie nur zum Besuch auf das Feld kommen. Bon dem jüngsten „Hochzeiter" im Dorf wird desgleichen, wo er sich eben sehen läßt, „etwas in die Halmen" d. h. ein Be¬ nefiz verlangt. So zieht man sich Zoll und Trinkgeld ein. Aber mit dem Ueberschuß des Erntesegens wird der Arme bedacht; derjenige, welcher die Garbe bindet, drückt noch insbesondre mit dem Knie auf jegliche Garbe, damit für die Aehrenleser mehr Aehren abfallen. Ja die Aehrenleser werden gar nicht selten mit dem gespeist und getränkt, was sich die Schnitter von ihrem eigenen Unter¬ halt abbrechen; überdies geht der Dorfwächter von Haus zu Haus und sammelt Brot für die fremden Aehrenleser, und der Gutsherr selbst giebt ihnen Herberge. Für die Armen bleibt ein Stück Feldes auch etwa ganz ungeschnitten. Auf Verspottung oder sonstiger liebloser Behandlung der Aehrenleser liegt die gött¬ liche Strafe schweren Unsegens. Ein übermüthiger Bauer fragt einen Trupp dieser Armen im Scheinton der Freigebigkeit: „Möget ihr Brot?" um, da sie bejahend antworten, den rohen Witz zu machen: „Gut, so esset brav, wenn ihr heimchömet!" Aber von Stund an hatte er selbst mit dem Hunger zu kämpfen. Ja jeglicher Mißbrauch der Gottesgabe durch Wort oder Handlung steht unter dem Fluch. So erzählt man sich, wie ein Vater zur Erntezeit sein Kind in der Absicht, es für irgendein Versehen abzustrafen, mittelst Vorhaltens eines Weißbrötchens zu sich gelockt und das so getäuschte Kind hierauf an eine in der Nähe befindliche Eiche gebunden und gezüchtigt habe; nun sei der Teufel in eigener Person erschienen und habe den Vater entführt; der Weg, den er dabei quer durch das Feld genommen, sowie der Baum, an dem er die unna¬ türliche Strafe vollzogen, werden heute noch gezeigt; die Eiche ist seit Menschen¬ gedenren dürr und jener Fcldstrich unfruchtbar. Wenn früher, zur Blüthezeit, der Wind bei schönem Wetter Wellen im

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_283352/586>, abgerufen am 15.01.2025.