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Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, II. Semester. I. Band.

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schichtlichem Zusätze späterer Hand, durch welche die Bücher Jesaiq und Jeremia
erläutert werden (Ich. 36--39, Jer. 62).

Die uns vorliegenden Prophetien sind zum Theil mit Anschriften versehen,
welche den Namen des Verfassers, auch wohl einige Notizen über ihn und über
die besondere Veranlassung der Reden enthalten. Diese Beischriften bewähren
sich mit wenig Ausnahme" als richtig, auch wo sie nicht von den Verfassern
selbst abstammen. Sie geben der Kritik sehr werthvolle Andeutungen über die
Entstehung der einzelnen Reden, wie der ganzen Sammlungen.

Aber innere Gründe müssen hinzukommen, um die Echtheit und die nähern
Umstände festzustellen, aus denen die einzelnen Theile und die ganzen Bücher
hervorgegangen sind. Die Kritik hat durchgängig nach der Veranlassung,
nicht nach der Erfüllung zu suchen. Eine Rede, in welcher Cyrus mit
Namen genannt wird (Ich. 44, -28; 45, 1), eine andere, in welcher die Meder
und Perser aufgefordert werden, Babel zu zerstören, weil es die Jsraeliten un¬
menschlich behandelt habe (Ich. 13, 1--14, 23). kann natürlich nicht von Jesaia
herrühren, der weder die Fortführung des Volks nach Babel, noch die Befreiung
desselben durch Cyrus, den König der Meder und Perser, vorherwissen konnte.
Eine Erklärungsweise, welche die Erfüllung der Prophetien, und gar im Ein¬
zelnen, nachweisen will, verstößt überall gegen die Thatsachen; hoffen wir, daß
diese von der deutschen Wissenschaft jetzt doch schon so ziemlich allgemein ange¬
nommene Einsicht den Jahrtausende alten kleinlichen Buchstaben- und Wun¬
derglauben in nicht zu serner Zeit ganz vertreiben möge!

Kommt zu einer genauen Untersuchung der geschichtlichen Veranlassung
noch eine sorgsame Erwägung der Sprache, des Stils und der Gedanken, so
kann man zwar nicht alle erhaltenen Prophetien, aber doch die große Mehrzahl
derselben ziemlich genau bestimmen. Natürlich dürfen hier nicht übertriebene
Ansprüche gestellt werden, wie z. B. daß man immer Jahreszahl und Datum
auffinden soll. Die prophetischen Reden sprechen aber so zu der Gegenwart
aus der Gegenwart, betreffen auch da, wo sie die allgemeinsten religiösen Sätze
verfechten, doch so sehr deren specielle Anwendung und wählen die Farben für
ihre Drob- und Verheißungsredeu so nach den vorliegenden Umständen, daß
ihre Zeit durchgängig weit leichter wiedergefunden werden kann als z. B. die
eines lyrischen Gedichtes über allgemein menschliche Verhältnisse.

Auf diese Weise werden die prophetischen Schriften für uns historische
Quellen von hohem Werthe. Ich meine hier nicht so sehr die zerstreuten ge>
schichtlichem Angaben in ihnen, wie ihr ganzes Eingehen auf das geistige Leben,
die socialen Zustände und die ganzen Verhältnisse ihrer Zeit. Sie beleben uns
den im Ganzen doch etwas dürren Abriß der Geschichte in den Büchern der
Könige und der Chronik und berichtigen ihn oft in wesentlichen Punkten; sie
haben eben den Werth, von Urkunden. Von einigen Perioden, wie der des


schichtlichem Zusätze späterer Hand, durch welche die Bücher Jesaiq und Jeremia
erläutert werden (Ich. 36—39, Jer. 62).

Die uns vorliegenden Prophetien sind zum Theil mit Anschriften versehen,
welche den Namen des Verfassers, auch wohl einige Notizen über ihn und über
die besondere Veranlassung der Reden enthalten. Diese Beischriften bewähren
sich mit wenig Ausnahme» als richtig, auch wo sie nicht von den Verfassern
selbst abstammen. Sie geben der Kritik sehr werthvolle Andeutungen über die
Entstehung der einzelnen Reden, wie der ganzen Sammlungen.

Aber innere Gründe müssen hinzukommen, um die Echtheit und die nähern
Umstände festzustellen, aus denen die einzelnen Theile und die ganzen Bücher
hervorgegangen sind. Die Kritik hat durchgängig nach der Veranlassung,
nicht nach der Erfüllung zu suchen. Eine Rede, in welcher Cyrus mit
Namen genannt wird (Ich. 44, -28; 45, 1), eine andere, in welcher die Meder
und Perser aufgefordert werden, Babel zu zerstören, weil es die Jsraeliten un¬
menschlich behandelt habe (Ich. 13, 1—14, 23). kann natürlich nicht von Jesaia
herrühren, der weder die Fortführung des Volks nach Babel, noch die Befreiung
desselben durch Cyrus, den König der Meder und Perser, vorherwissen konnte.
Eine Erklärungsweise, welche die Erfüllung der Prophetien, und gar im Ein¬
zelnen, nachweisen will, verstößt überall gegen die Thatsachen; hoffen wir, daß
diese von der deutschen Wissenschaft jetzt doch schon so ziemlich allgemein ange¬
nommene Einsicht den Jahrtausende alten kleinlichen Buchstaben- und Wun¬
derglauben in nicht zu serner Zeit ganz vertreiben möge!

Kommt zu einer genauen Untersuchung der geschichtlichen Veranlassung
noch eine sorgsame Erwägung der Sprache, des Stils und der Gedanken, so
kann man zwar nicht alle erhaltenen Prophetien, aber doch die große Mehrzahl
derselben ziemlich genau bestimmen. Natürlich dürfen hier nicht übertriebene
Ansprüche gestellt werden, wie z. B. daß man immer Jahreszahl und Datum
auffinden soll. Die prophetischen Reden sprechen aber so zu der Gegenwart
aus der Gegenwart, betreffen auch da, wo sie die allgemeinsten religiösen Sätze
verfechten, doch so sehr deren specielle Anwendung und wählen die Farben für
ihre Drob- und Verheißungsredeu so nach den vorliegenden Umständen, daß
ihre Zeit durchgängig weit leichter wiedergefunden werden kann als z. B. die
eines lyrischen Gedichtes über allgemein menschliche Verhältnisse.

Auf diese Weise werden die prophetischen Schriften für uns historische
Quellen von hohem Werthe. Ich meine hier nicht so sehr die zerstreuten ge>
schichtlichem Angaben in ihnen, wie ihr ganzes Eingehen auf das geistige Leben,
die socialen Zustände und die ganzen Verhältnisse ihrer Zeit. Sie beleben uns
den im Ganzen doch etwas dürren Abriß der Geschichte in den Büchern der
Könige und der Chronik und berichtigen ihn oft in wesentlichen Punkten; sie
haben eben den Werth, von Urkunden. Von einigen Perioden, wie der des


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[0452] schichtlichem Zusätze späterer Hand, durch welche die Bücher Jesaiq und Jeremia erläutert werden (Ich. 36—39, Jer. 62). Die uns vorliegenden Prophetien sind zum Theil mit Anschriften versehen, welche den Namen des Verfassers, auch wohl einige Notizen über ihn und über die besondere Veranlassung der Reden enthalten. Diese Beischriften bewähren sich mit wenig Ausnahme» als richtig, auch wo sie nicht von den Verfassern selbst abstammen. Sie geben der Kritik sehr werthvolle Andeutungen über die Entstehung der einzelnen Reden, wie der ganzen Sammlungen. Aber innere Gründe müssen hinzukommen, um die Echtheit und die nähern Umstände festzustellen, aus denen die einzelnen Theile und die ganzen Bücher hervorgegangen sind. Die Kritik hat durchgängig nach der Veranlassung, nicht nach der Erfüllung zu suchen. Eine Rede, in welcher Cyrus mit Namen genannt wird (Ich. 44, -28; 45, 1), eine andere, in welcher die Meder und Perser aufgefordert werden, Babel zu zerstören, weil es die Jsraeliten un¬ menschlich behandelt habe (Ich. 13, 1—14, 23). kann natürlich nicht von Jesaia herrühren, der weder die Fortführung des Volks nach Babel, noch die Befreiung desselben durch Cyrus, den König der Meder und Perser, vorherwissen konnte. Eine Erklärungsweise, welche die Erfüllung der Prophetien, und gar im Ein¬ zelnen, nachweisen will, verstößt überall gegen die Thatsachen; hoffen wir, daß diese von der deutschen Wissenschaft jetzt doch schon so ziemlich allgemein ange¬ nommene Einsicht den Jahrtausende alten kleinlichen Buchstaben- und Wun¬ derglauben in nicht zu serner Zeit ganz vertreiben möge! Kommt zu einer genauen Untersuchung der geschichtlichen Veranlassung noch eine sorgsame Erwägung der Sprache, des Stils und der Gedanken, so kann man zwar nicht alle erhaltenen Prophetien, aber doch die große Mehrzahl derselben ziemlich genau bestimmen. Natürlich dürfen hier nicht übertriebene Ansprüche gestellt werden, wie z. B. daß man immer Jahreszahl und Datum auffinden soll. Die prophetischen Reden sprechen aber so zu der Gegenwart aus der Gegenwart, betreffen auch da, wo sie die allgemeinsten religiösen Sätze verfechten, doch so sehr deren specielle Anwendung und wählen die Farben für ihre Drob- und Verheißungsredeu so nach den vorliegenden Umständen, daß ihre Zeit durchgängig weit leichter wiedergefunden werden kann als z. B. die eines lyrischen Gedichtes über allgemein menschliche Verhältnisse. Auf diese Weise werden die prophetischen Schriften für uns historische Quellen von hohem Werthe. Ich meine hier nicht so sehr die zerstreuten ge> schichtlichem Angaben in ihnen, wie ihr ganzes Eingehen auf das geistige Leben, die socialen Zustände und die ganzen Verhältnisse ihrer Zeit. Sie beleben uns den im Ganzen doch etwas dürren Abriß der Geschichte in den Büchern der Könige und der Chronik und berichtigen ihn oft in wesentlichen Punkten; sie haben eben den Werth, von Urkunden. Von einigen Perioden, wie der des

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_283352/452>, abgerufen am 15.01.2025.