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Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, II. Semester. I. Band.

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Mischen Reiche, lebte am Schluß des Exils noch einmal kräftig auf, um bald
darauf gänzlich zu verschwinden. Die letzten Propheten im Alten Testament
zeigen schon das völlige Erlöschen der Begeisterung und des frischen, geistigen
Lebens.

Die Propheten betrachten sich als Wächter der Treue gegen Gott; sie
Predigen strenge Sittlichkeit mit der Drohung strenger Strafe für die Vergehen.
Die heiße Sehnsucht nach dem Ideal einer besseren Zukunft zeigt sich als sichere
Verheißung für die Frommen.

Diese Grundgedanken nehmen verschiedene Gestalten an, je nach den Um¬
ständen. Alles wird in der Form der Anschauung ganz bestimmt ausgesagt.
Wir sehen oft, daß diese bestimmte Schilderung der Zukunft auch für den Pro¬
pheten nur eine poetische Ausmalung sein soll; aber es ist sehr schwer zu ent-
scheiden, wie weit die Propheten bei den einzelnen Darstellungen subjectiv von
der Wahrheit der einzelnen Züge überzeugt sind. Daß sie hierin freier dastehn,
als man denken möchte, erkennen wir daran, daß ein und derselbe Prophet oft
A"nz verschiedene Ausführungen seiner Verheißungen und Drohungen giebt,
Welche, wenn sie prosaisch genau genommen würden, mit einander im entschie¬
densten Widerspruch ständen; und zwar geschieht dies noch oft in den jetzigen
Aufzeichnungen, in denen doch solche Widersprüche hätten verwischt werden
können, wenn es dem Propheten darauf angekommen wäre.

Den Kern der prophetischen Gedanken müssen wir überall von der Form
unterscheiden, in welche derselbe gekleidet wird, auch da, wo dem Sprechenden
selbst dies von höchster Bedeutung ist. Dem Jesaia steht es fest, daß der
Tempel unzerstörbar sei, während sein Zeitgenosse Mich" zuerst verkündet, in
^r großen Züchtigung, welche das Volk durch seine Sünden unwiderruflich über
sieh ziehe, müsse auch der Tempel mit der heiligen Stadt fallen. Die nächste
Zeit gab dem Jesaia, die Zukunft dem Micha Recht, während doch im Einzelnen
d'ehe Zerstörung ganz anders kam, als Mich" erwarten konnte. Der Haupt-
Sedanke, daß das Volk eine große Prüfung erleiden müsse und daß der unzer¬
störbare Kern desselben alle Leiden überstehen werde, hat hier für uns allein
wahren Werth. Verheißungen und Drohungen wechseln die Gestalt je nach den
Umständen, während sie im Wesen sich gleich bleiben. Jesaia und seine Zeit¬
genossen erwarten das große Gericht von den Assyrern, die Propheten des hin¬
sinkenden Jerusalems von den Babyloniern.

Die Lebhaftigkeit der Phantasie und der Gemüthsbewegung betrachtet die
schließliche Entscheidung, die große Züchtigung und das darauffolgende große
Heil durchgängig als nahe bevorstehend. Nur unter einer solchen Voraussetzung
kann der Prophet mit Wärme sprechen, nur so kann er auf seine Hörer wirken.
^ ist schon eine höchst eigenthümliche Erscheinung, daß der melancholische
^eremia die Zeit der Noth 70 Jahre dauern läßt. Volle zwei Menschenalter


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Mischen Reiche, lebte am Schluß des Exils noch einmal kräftig auf, um bald
darauf gänzlich zu verschwinden. Die letzten Propheten im Alten Testament
zeigen schon das völlige Erlöschen der Begeisterung und des frischen, geistigen
Lebens.

Die Propheten betrachten sich als Wächter der Treue gegen Gott; sie
Predigen strenge Sittlichkeit mit der Drohung strenger Strafe für die Vergehen.
Die heiße Sehnsucht nach dem Ideal einer besseren Zukunft zeigt sich als sichere
Verheißung für die Frommen.

Diese Grundgedanken nehmen verschiedene Gestalten an, je nach den Um¬
ständen. Alles wird in der Form der Anschauung ganz bestimmt ausgesagt.
Wir sehen oft, daß diese bestimmte Schilderung der Zukunft auch für den Pro¬
pheten nur eine poetische Ausmalung sein soll; aber es ist sehr schwer zu ent-
scheiden, wie weit die Propheten bei den einzelnen Darstellungen subjectiv von
der Wahrheit der einzelnen Züge überzeugt sind. Daß sie hierin freier dastehn,
als man denken möchte, erkennen wir daran, daß ein und derselbe Prophet oft
A«nz verschiedene Ausführungen seiner Verheißungen und Drohungen giebt,
Welche, wenn sie prosaisch genau genommen würden, mit einander im entschie¬
densten Widerspruch ständen; und zwar geschieht dies noch oft in den jetzigen
Aufzeichnungen, in denen doch solche Widersprüche hätten verwischt werden
können, wenn es dem Propheten darauf angekommen wäre.

Den Kern der prophetischen Gedanken müssen wir überall von der Form
unterscheiden, in welche derselbe gekleidet wird, auch da, wo dem Sprechenden
selbst dies von höchster Bedeutung ist. Dem Jesaia steht es fest, daß der
Tempel unzerstörbar sei, während sein Zeitgenosse Mich« zuerst verkündet, in
^r großen Züchtigung, welche das Volk durch seine Sünden unwiderruflich über
sieh ziehe, müsse auch der Tempel mit der heiligen Stadt fallen. Die nächste
Zeit gab dem Jesaia, die Zukunft dem Micha Recht, während doch im Einzelnen
d'ehe Zerstörung ganz anders kam, als Mich« erwarten konnte. Der Haupt-
Sedanke, daß das Volk eine große Prüfung erleiden müsse und daß der unzer¬
störbare Kern desselben alle Leiden überstehen werde, hat hier für uns allein
wahren Werth. Verheißungen und Drohungen wechseln die Gestalt je nach den
Umständen, während sie im Wesen sich gleich bleiben. Jesaia und seine Zeit¬
genossen erwarten das große Gericht von den Assyrern, die Propheten des hin¬
sinkenden Jerusalems von den Babyloniern.

Die Lebhaftigkeit der Phantasie und der Gemüthsbewegung betrachtet die
schließliche Entscheidung, die große Züchtigung und das darauffolgende große
Heil durchgängig als nahe bevorstehend. Nur unter einer solchen Voraussetzung
kann der Prophet mit Wärme sprechen, nur so kann er auf seine Hörer wirken.
^ ist schon eine höchst eigenthümliche Erscheinung, daß der melancholische
^eremia die Zeit der Noth 70 Jahre dauern läßt. Volle zwei Menschenalter


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[0445] Mischen Reiche, lebte am Schluß des Exils noch einmal kräftig auf, um bald darauf gänzlich zu verschwinden. Die letzten Propheten im Alten Testament zeigen schon das völlige Erlöschen der Begeisterung und des frischen, geistigen Lebens. Die Propheten betrachten sich als Wächter der Treue gegen Gott; sie Predigen strenge Sittlichkeit mit der Drohung strenger Strafe für die Vergehen. Die heiße Sehnsucht nach dem Ideal einer besseren Zukunft zeigt sich als sichere Verheißung für die Frommen. Diese Grundgedanken nehmen verschiedene Gestalten an, je nach den Um¬ ständen. Alles wird in der Form der Anschauung ganz bestimmt ausgesagt. Wir sehen oft, daß diese bestimmte Schilderung der Zukunft auch für den Pro¬ pheten nur eine poetische Ausmalung sein soll; aber es ist sehr schwer zu ent- scheiden, wie weit die Propheten bei den einzelnen Darstellungen subjectiv von der Wahrheit der einzelnen Züge überzeugt sind. Daß sie hierin freier dastehn, als man denken möchte, erkennen wir daran, daß ein und derselbe Prophet oft A«nz verschiedene Ausführungen seiner Verheißungen und Drohungen giebt, Welche, wenn sie prosaisch genau genommen würden, mit einander im entschie¬ densten Widerspruch ständen; und zwar geschieht dies noch oft in den jetzigen Aufzeichnungen, in denen doch solche Widersprüche hätten verwischt werden können, wenn es dem Propheten darauf angekommen wäre. Den Kern der prophetischen Gedanken müssen wir überall von der Form unterscheiden, in welche derselbe gekleidet wird, auch da, wo dem Sprechenden selbst dies von höchster Bedeutung ist. Dem Jesaia steht es fest, daß der Tempel unzerstörbar sei, während sein Zeitgenosse Mich« zuerst verkündet, in ^r großen Züchtigung, welche das Volk durch seine Sünden unwiderruflich über sieh ziehe, müsse auch der Tempel mit der heiligen Stadt fallen. Die nächste Zeit gab dem Jesaia, die Zukunft dem Micha Recht, während doch im Einzelnen d'ehe Zerstörung ganz anders kam, als Mich« erwarten konnte. Der Haupt- Sedanke, daß das Volk eine große Prüfung erleiden müsse und daß der unzer¬ störbare Kern desselben alle Leiden überstehen werde, hat hier für uns allein wahren Werth. Verheißungen und Drohungen wechseln die Gestalt je nach den Umständen, während sie im Wesen sich gleich bleiben. Jesaia und seine Zeit¬ genossen erwarten das große Gericht von den Assyrern, die Propheten des hin¬ sinkenden Jerusalems von den Babyloniern. Die Lebhaftigkeit der Phantasie und der Gemüthsbewegung betrachtet die schließliche Entscheidung, die große Züchtigung und das darauffolgende große Heil durchgängig als nahe bevorstehend. Nur unter einer solchen Voraussetzung kann der Prophet mit Wärme sprechen, nur so kann er auf seine Hörer wirken. ^ ist schon eine höchst eigenthümliche Erscheinung, daß der melancholische ^eremia die Zeit der Noth 70 Jahre dauern läßt. Volle zwei Menschenalter 68*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_283352/445>, abgerufen am 15.01.2025.