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Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, II. Semester. I. Band.

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ausfallen, doch etwa 10 Mitglieder der Kammer auf der conservativen Seite
oder der Seite der Regierung zu finden sind. Bei dem Zusammentreten mit
der zweiten Kammer, welche 24 Abgeordnete zählt, wobei die Gesammtzahl 43,
also die einfache Mehrheit 22 beträgt, fiele also der Regierung die Aufgabe zu,
zu ihren 10 conservativen Mitgliedern erster Kammer noch 12 Abgeordnete
der zweiten Kammer hinzuzugcwinnen, um die Mehrheit für sich zu haben.
Dieses Ziel war nahezu oder geradezu erreicht, als die Regierung bei der vor-
letzten Wahl 11 ihrer Candidaten in der zweiten Kammer durchgesetzt hatte.
Es erklärt sich daraus, warum die liberale Partei der zweiten Kammer so hart¬
näckig auf der Vornahme der Wahlprüfung bestand und als zu dieser die con-
servative Minderheit das Erscheinen in der Kammer verweigerte, durch ihr
Ausscheiden aus der Ständeversammlung als Wiedervergeltung die Beschlu߬
fähigkeit dieser zu nichte machte. Es galt hier wirklich das Aeußerste.

Hier haben wir nun die zweite Schwäche der liberalen Partei und die
zweite Stärke der Regierung aufgedeckt; eine dritte Stärke der Regierung ergiebt
sich aber in der Gesammt-Staatseinrichtung des Landes. Fangen wir bei der
Verwaltung von unten herauf an. Die Städtebevölkerung beträgt 28"/",, die
ländliche 72"/<>, in 32 Städten, 36 Flecken und 817 Dörfern, wozu 238 ein¬
zelne außer dem Ortsberinge gelegene Höfe, 1078 Mühlen und 52 Hütten- und
Hammerwerke kommendes überwiegt also die ländliche Bevölkerung bedeutend
und damit auch die Abhängigkeit der Gemeindeverwaltungen von der Regie¬
rungsbehörde; denn wir dürfen mit Recht voraussetzen, daß die Verwaltung
der Städte wegen der größeren Intelligenz und des größeren Wohlstandes
ihrer Bewohner eine selbständigere ist, wie sich das auch bei der Stadt Wies¬
baden gezeigt hat. Die Wahl der Bürgermeister (Ortsvorstände) geschieht
nun zwar durch die Gemeinden, aber nöthig ist die Bestätigung der Wahl durch
die Landesregierung. Versagt diese die Bestätigung bei zwei Wahlen, wobei
noch der zuerst verworfene Candidat bei der zweiten Wahl nicht wieder pra>
sentirt werden kann, so ernennt die Landesregierung den Bürgermeister. Sie-
thut dies auch, wenn die Gemeinde die Vornahme der Wahl verweigert, oder
wenn die Wahl zweimal vergeblich versucht worden ist. Gewählte und bestä¬
tigte Bürgermeister regieren zwar auf Lebenszeit (ernannte nur 6 Jahre), jeder
Bürgermeister, Gemcindcrechncr oder Gemeinderath kann aber, wenn er sich
Vergehungen oder Vernachlässigungen hat zu Schulden kommen lassen oder das
zu einer wirksamen Dienstführung erforderliche Vertrauen (!) ver¬
loren hat, von der Landesregierung entlassen werden.

Dies ist offenbar eine außerordentlich beschränkte "Selbständigkeit" der
Gemeindeverwaltung, von der in dem Verfassungsedict die Rede ist. Wie leicht
verliert ein oppositioneller Bürgermeister nach oben hin "das erforderliche Ver¬
trauen" ; er braucht nur einmal liberal zu wählen oder als Vorsitzender in den


ausfallen, doch etwa 10 Mitglieder der Kammer auf der conservativen Seite
oder der Seite der Regierung zu finden sind. Bei dem Zusammentreten mit
der zweiten Kammer, welche 24 Abgeordnete zählt, wobei die Gesammtzahl 43,
also die einfache Mehrheit 22 beträgt, fiele also der Regierung die Aufgabe zu,
zu ihren 10 conservativen Mitgliedern erster Kammer noch 12 Abgeordnete
der zweiten Kammer hinzuzugcwinnen, um die Mehrheit für sich zu haben.
Dieses Ziel war nahezu oder geradezu erreicht, als die Regierung bei der vor-
letzten Wahl 11 ihrer Candidaten in der zweiten Kammer durchgesetzt hatte.
Es erklärt sich daraus, warum die liberale Partei der zweiten Kammer so hart¬
näckig auf der Vornahme der Wahlprüfung bestand und als zu dieser die con-
servative Minderheit das Erscheinen in der Kammer verweigerte, durch ihr
Ausscheiden aus der Ständeversammlung als Wiedervergeltung die Beschlu߬
fähigkeit dieser zu nichte machte. Es galt hier wirklich das Aeußerste.

Hier haben wir nun die zweite Schwäche der liberalen Partei und die
zweite Stärke der Regierung aufgedeckt; eine dritte Stärke der Regierung ergiebt
sich aber in der Gesammt-Staatseinrichtung des Landes. Fangen wir bei der
Verwaltung von unten herauf an. Die Städtebevölkerung beträgt 28"/«,, die
ländliche 72"/<>, in 32 Städten, 36 Flecken und 817 Dörfern, wozu 238 ein¬
zelne außer dem Ortsberinge gelegene Höfe, 1078 Mühlen und 52 Hütten- und
Hammerwerke kommendes überwiegt also die ländliche Bevölkerung bedeutend
und damit auch die Abhängigkeit der Gemeindeverwaltungen von der Regie¬
rungsbehörde; denn wir dürfen mit Recht voraussetzen, daß die Verwaltung
der Städte wegen der größeren Intelligenz und des größeren Wohlstandes
ihrer Bewohner eine selbständigere ist, wie sich das auch bei der Stadt Wies¬
baden gezeigt hat. Die Wahl der Bürgermeister (Ortsvorstände) geschieht
nun zwar durch die Gemeinden, aber nöthig ist die Bestätigung der Wahl durch
die Landesregierung. Versagt diese die Bestätigung bei zwei Wahlen, wobei
noch der zuerst verworfene Candidat bei der zweiten Wahl nicht wieder pra>
sentirt werden kann, so ernennt die Landesregierung den Bürgermeister. Sie-
thut dies auch, wenn die Gemeinde die Vornahme der Wahl verweigert, oder
wenn die Wahl zweimal vergeblich versucht worden ist. Gewählte und bestä¬
tigte Bürgermeister regieren zwar auf Lebenszeit (ernannte nur 6 Jahre), jeder
Bürgermeister, Gemcindcrechncr oder Gemeinderath kann aber, wenn er sich
Vergehungen oder Vernachlässigungen hat zu Schulden kommen lassen oder das
zu einer wirksamen Dienstführung erforderliche Vertrauen (!) ver¬
loren hat, von der Landesregierung entlassen werden.

Dies ist offenbar eine außerordentlich beschränkte „Selbständigkeit" der
Gemeindeverwaltung, von der in dem Verfassungsedict die Rede ist. Wie leicht
verliert ein oppositioneller Bürgermeister nach oben hin „das erforderliche Ver¬
trauen" ; er braucht nur einmal liberal zu wählen oder als Vorsitzender in den


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_283352/404>, abgerufen am 15.01.2025.