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Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, II. Semester. I. Band.

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dessen nicht sehr hoch anschlagen. Es scheint, daß er den Plan, auf deutschem
Boden die alten zu Grunde gegangenen Zustände zu studiren, sehr bald aus¬
gegeben hat, wie eS denn für den Ausländer völlig unmöglich sein möchte, in
dem neuen Deutschland die Spuren des alten, wie es vor 1789 bestanden,
aufzufinden. Längere Zeit hielt er sich in Bonn auf. wo er mit den Univer-
sitätsprofessoren, namentlich auch katholischen, alsbald in lebhaften Verkehr trat:
die Briefe aus Deutschland zeigen indessen, daß ihre Unterhaltungen sich viel¬
mehr um die Gegenwart, als um die Vergangenheit gedreht haben. Seine
unmittelbaren Beobachtungen über die geistige und politische Stimmung in
Deutschland sind fein und scharf. Er beklagt die politische Abspannung und
Gleichgültigkeit, die auch in Deutschland sich der Geister bemächtigt bade; aber
er erkennt sehr richtig, daß unter der ruhigen Oberfläche der Freiheitssinn fort"
glimme. Das wissenschaftliche Leben, der Gedanke, sei unaufhörlich thätig
(diese Bewegung vermißt er in Frankreich besonders schmerzlich); und selbst die
politische Erschlaffung schien mehr aus einer gewissen Verwirrung infolge der
Thorheiten, die man im Streben nach der Freiheit begangen habe, hervorge¬
gangen zu sein, als aus einer Erkaltung des Freiheitssinnes. Man bewahre
den Glauben an die freien Institutionen, dessen Abwesenheit in Frankreich ein
so schreckliches Symptom sei. Trefflich ist auch die Bemerkung, daß man in
Deutschland keine Furcht vor dem Socialismus habe, während in Frankreich
die Furcht die herrschende Leidenschaft sei. In einem andern Brief tadelt er
die Deutschen, daß sie nicht die Mittel zur Erwerbung der Freiheit in Anwen¬
dung zu bringen wissen, so in Preußen, wo man eine wahrhafte Verfassung und
alle Bedingungen für eine politische Thätigkeit besitze. Wenn er bei dieser Ge¬
legenheit die Verwaltung in Preußen als wahrhaft unabhängig von der Staats-
gewalt bezeichnet, so ist er zu diesem Ausspruche, dessen Nichtigkeit in Preußen
schwerlich allgemeine Anerkennung finden möchte, wahrscheinlich wohl nur durch
den Eindruck verlockt worden, den das städtische Communalleben und der Gegen-
s"dz. in dem dasselbe zu dem von ihm so unablässig bekämpften französischen
Bevormundungssystem steht, auf ihn gemacht haben wird. Daß er das deutsche
Einheitsstreben als eine große Chimäre bezeichnet, sei beiläufig erwähnt. Wir
können, so lange wir unfähig sind, die Bedingungen zu begreifen, die allein
Zur Einheit führen können, nicht Anspruch machen auf die Achtung des Aus¬
landes, die immer nur der That zu Theil werden wird.

Bemerkenswerth und im engsten Zusammenhange stehend mit seiner Ab¬
neigung gegen jede philosophische Spekulation ist seine Stellung zur Religion
und Kirche. Tocqueville ist niemals Voltairianer gewesen. Seinem 'durchaus
positiven Geiste erschien schon in früher Jugend der Zweifel als eines der
größten Uebel, die den Menschen betreffen können. Sein religiöses Bedürfniß
scheint in der Unterwürfigkeit unter die Satzungen der katholischen Kirche vollste


Brenzboten III- 1L"S, 62

dessen nicht sehr hoch anschlagen. Es scheint, daß er den Plan, auf deutschem
Boden die alten zu Grunde gegangenen Zustände zu studiren, sehr bald aus¬
gegeben hat, wie eS denn für den Ausländer völlig unmöglich sein möchte, in
dem neuen Deutschland die Spuren des alten, wie es vor 1789 bestanden,
aufzufinden. Längere Zeit hielt er sich in Bonn auf. wo er mit den Univer-
sitätsprofessoren, namentlich auch katholischen, alsbald in lebhaften Verkehr trat:
die Briefe aus Deutschland zeigen indessen, daß ihre Unterhaltungen sich viel¬
mehr um die Gegenwart, als um die Vergangenheit gedreht haben. Seine
unmittelbaren Beobachtungen über die geistige und politische Stimmung in
Deutschland sind fein und scharf. Er beklagt die politische Abspannung und
Gleichgültigkeit, die auch in Deutschland sich der Geister bemächtigt bade; aber
er erkennt sehr richtig, daß unter der ruhigen Oberfläche der Freiheitssinn fort«
glimme. Das wissenschaftliche Leben, der Gedanke, sei unaufhörlich thätig
(diese Bewegung vermißt er in Frankreich besonders schmerzlich); und selbst die
politische Erschlaffung schien mehr aus einer gewissen Verwirrung infolge der
Thorheiten, die man im Streben nach der Freiheit begangen habe, hervorge¬
gangen zu sein, als aus einer Erkaltung des Freiheitssinnes. Man bewahre
den Glauben an die freien Institutionen, dessen Abwesenheit in Frankreich ein
so schreckliches Symptom sei. Trefflich ist auch die Bemerkung, daß man in
Deutschland keine Furcht vor dem Socialismus habe, während in Frankreich
die Furcht die herrschende Leidenschaft sei. In einem andern Brief tadelt er
die Deutschen, daß sie nicht die Mittel zur Erwerbung der Freiheit in Anwen¬
dung zu bringen wissen, so in Preußen, wo man eine wahrhafte Verfassung und
alle Bedingungen für eine politische Thätigkeit besitze. Wenn er bei dieser Ge¬
legenheit die Verwaltung in Preußen als wahrhaft unabhängig von der Staats-
gewalt bezeichnet, so ist er zu diesem Ausspruche, dessen Nichtigkeit in Preußen
schwerlich allgemeine Anerkennung finden möchte, wahrscheinlich wohl nur durch
den Eindruck verlockt worden, den das städtische Communalleben und der Gegen-
s"dz. in dem dasselbe zu dem von ihm so unablässig bekämpften französischen
Bevormundungssystem steht, auf ihn gemacht haben wird. Daß er das deutsche
Einheitsstreben als eine große Chimäre bezeichnet, sei beiläufig erwähnt. Wir
können, so lange wir unfähig sind, die Bedingungen zu begreifen, die allein
Zur Einheit führen können, nicht Anspruch machen auf die Achtung des Aus¬
landes, die immer nur der That zu Theil werden wird.

Bemerkenswerth und im engsten Zusammenhange stehend mit seiner Ab¬
neigung gegen jede philosophische Spekulation ist seine Stellung zur Religion
und Kirche. Tocqueville ist niemals Voltairianer gewesen. Seinem 'durchaus
positiven Geiste erschien schon in früher Jugend der Zweifel als eines der
größten Uebel, die den Menschen betreffen können. Sein religiöses Bedürfniß
scheint in der Unterwürfigkeit unter die Satzungen der katholischen Kirche vollste


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_283352/393>, abgerufen am 15.01.2025.