Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, II. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

ärgsten Drangsal besonders abtrennt, ist in den Verhältnissen seiner Zeit ganz
begründet.

Wollten wir übrigens die Möglichkeit einer so directen Vorhersagung der
Zukunft durch einen Propheten einmal zugeben, so dürste dann doch kein Fehler
in derselben sein: dann müßte das Gottesreich wirklich sogleich mit dem Sturz
des Epiphanes begonnen haben! Die Späteren haben sich freilich mit unserm
Buche abgefunden, indem sie seine Aussagen auf ähnliche Weise umdeuteten,
wie in diesem selbst die Worte Jeremia's umgedeutet werden. Zu bemerken
ist übrigens noch, daß ein Prophet im ersten Regierungsjahre des Eroberers
Von Babel noch gar nicht in der Lage war. an der buchstäblichen Erfüllung
der Weissagung Jeremias zu verzweifeln, indem damals die 70 Jahre noch
nickt abgelaufen waren. Aber freilich zur Zeit des Verfassers mühte ein gläu¬
biger Jsraelit den Widerspruch der Verheißung mit der Wirklichkeit aufs
schmerzlichste empfinden.

Aus dem Gesagten folgt die Unechtheit und wirkliche Abfassungszeit unsers
Buches mit Sicherheit, und wir brauchen die zahlreichen sonstigen Schwierig¬
keiten, welche der Annahme der Endeken gegenüberstehen, nur ganz kurz zu
berühren. Dahin gehört die Märchenbaftigkeit und Unmöglichkeit der meisten
in dem Buche erzählten Begebenheiten. Man denke an die Bewahrung der
drei Männer vor dem Feuer und andere grelle Wunder, an den siebenjährigen
Wahnsinn Ncbukadnezars, sein Leben unter den Thieren und sein Grasfressen,
an die seltsame Weise, wie er diese seine Schicksale den Unterthanen verkündet,
das ungereimte Verbot, daß Niemand im Reiche einen ganzen Monat lang von
irgendjemand etwas bitten soll, als vom König, und noch mancherlei anderes.

Einige aus den Ideen des Buches z. B. über die Auferstehung der Todten
zu nehmende Einwände gegen seine Echtheit wollen wir als weniger handgreif¬
lich nicht hervorheben. Dagegen wollen wir auf zwei innere Widersprüche
aufmerksam machen, welche man vergeblich durch gezwungene Auslegungen hat'
beseitigen wollen. 1, 21 heißt es, Daniel "sei gewesen" (d. h. habe gelebt) bis
zum ersten Jahre des Cyrus, während er 10, 1 noch im dritten Jahre dieses
Königs ein Gesicht schaut. Und nach Capitel 1 sollen die von Nebukadnezar
fortgeführten Jünglinge 3 Jahre lang erzogen werden (V. 5) und werden wirk¬
lich so lange erzogen (V. 18). während die Erzählung des Cap. 2, die hinter
jener Erziehung liegt, schon ins zweite Regierungsjahr des Königs gesetzt wird.

Auch sprachliche Gründe sprechen gegen das Alter des Buchs. Daß das¬
selbe zum Theil (von 2.4 bis Cap. 7) nicht hebräisch, sondern aramäisch ge¬
schrieben ist, würde freilich noch nicht gegen die Echtheit zeugen. Man könnte
sich eben denken. daß ein unter Aramäern in Babel lebender Jsraelit leicht
dazu habe kommen können, mit beiden Sprachen abzuwechseln. Erst die richtige
Erkenntniß der Abfassungszeit unseres Buches setzt uns vielmehr in den Stand.


ärgsten Drangsal besonders abtrennt, ist in den Verhältnissen seiner Zeit ganz
begründet.

Wollten wir übrigens die Möglichkeit einer so directen Vorhersagung der
Zukunft durch einen Propheten einmal zugeben, so dürste dann doch kein Fehler
in derselben sein: dann müßte das Gottesreich wirklich sogleich mit dem Sturz
des Epiphanes begonnen haben! Die Späteren haben sich freilich mit unserm
Buche abgefunden, indem sie seine Aussagen auf ähnliche Weise umdeuteten,
wie in diesem selbst die Worte Jeremia's umgedeutet werden. Zu bemerken
ist übrigens noch, daß ein Prophet im ersten Regierungsjahre des Eroberers
Von Babel noch gar nicht in der Lage war. an der buchstäblichen Erfüllung
der Weissagung Jeremias zu verzweifeln, indem damals die 70 Jahre noch
nickt abgelaufen waren. Aber freilich zur Zeit des Verfassers mühte ein gläu¬
biger Jsraelit den Widerspruch der Verheißung mit der Wirklichkeit aufs
schmerzlichste empfinden.

Aus dem Gesagten folgt die Unechtheit und wirkliche Abfassungszeit unsers
Buches mit Sicherheit, und wir brauchen die zahlreichen sonstigen Schwierig¬
keiten, welche der Annahme der Endeken gegenüberstehen, nur ganz kurz zu
berühren. Dahin gehört die Märchenbaftigkeit und Unmöglichkeit der meisten
in dem Buche erzählten Begebenheiten. Man denke an die Bewahrung der
drei Männer vor dem Feuer und andere grelle Wunder, an den siebenjährigen
Wahnsinn Ncbukadnezars, sein Leben unter den Thieren und sein Grasfressen,
an die seltsame Weise, wie er diese seine Schicksale den Unterthanen verkündet,
das ungereimte Verbot, daß Niemand im Reiche einen ganzen Monat lang von
irgendjemand etwas bitten soll, als vom König, und noch mancherlei anderes.

Einige aus den Ideen des Buches z. B. über die Auferstehung der Todten
zu nehmende Einwände gegen seine Echtheit wollen wir als weniger handgreif¬
lich nicht hervorheben. Dagegen wollen wir auf zwei innere Widersprüche
aufmerksam machen, welche man vergeblich durch gezwungene Auslegungen hat'
beseitigen wollen. 1, 21 heißt es, Daniel „sei gewesen" (d. h. habe gelebt) bis
zum ersten Jahre des Cyrus, während er 10, 1 noch im dritten Jahre dieses
Königs ein Gesicht schaut. Und nach Capitel 1 sollen die von Nebukadnezar
fortgeführten Jünglinge 3 Jahre lang erzogen werden (V. 5) und werden wirk¬
lich so lange erzogen (V. 18). während die Erzählung des Cap. 2, die hinter
jener Erziehung liegt, schon ins zweite Regierungsjahr des Königs gesetzt wird.

Auch sprachliche Gründe sprechen gegen das Alter des Buchs. Daß das¬
selbe zum Theil (von 2.4 bis Cap. 7) nicht hebräisch, sondern aramäisch ge¬
schrieben ist, würde freilich noch nicht gegen die Echtheit zeugen. Man könnte
sich eben denken. daß ein unter Aramäern in Babel lebender Jsraelit leicht
dazu habe kommen können, mit beiden Sprachen abzuwechseln. Erst die richtige
Erkenntniß der Abfassungszeit unseres Buches setzt uns vielmehr in den Stand.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0356" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/283709"/>
          <p xml:id="ID_1008" prev="#ID_1007"> ärgsten Drangsal besonders abtrennt, ist in den Verhältnissen seiner Zeit ganz<lb/>
begründet.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1009"> Wollten wir übrigens die Möglichkeit einer so directen Vorhersagung der<lb/>
Zukunft durch einen Propheten einmal zugeben, so dürste dann doch kein Fehler<lb/>
in derselben sein: dann müßte das Gottesreich wirklich sogleich mit dem Sturz<lb/>
des Epiphanes begonnen haben! Die Späteren haben sich freilich mit unserm<lb/>
Buche abgefunden, indem sie seine Aussagen auf ähnliche Weise umdeuteten,<lb/>
wie in diesem selbst die Worte Jeremia's umgedeutet werden. Zu bemerken<lb/>
ist übrigens noch, daß ein Prophet im ersten Regierungsjahre des Eroberers<lb/>
Von Babel noch gar nicht in der Lage war. an der buchstäblichen Erfüllung<lb/>
der Weissagung Jeremias zu verzweifeln, indem damals die 70 Jahre noch<lb/>
nickt abgelaufen waren. Aber freilich zur Zeit des Verfassers mühte ein gläu¬<lb/>
biger Jsraelit den Widerspruch der Verheißung mit der Wirklichkeit aufs<lb/>
schmerzlichste empfinden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1010"> Aus dem Gesagten folgt die Unechtheit und wirkliche Abfassungszeit unsers<lb/>
Buches mit Sicherheit, und wir brauchen die zahlreichen sonstigen Schwierig¬<lb/>
keiten, welche der Annahme der Endeken gegenüberstehen, nur ganz kurz zu<lb/>
berühren. Dahin gehört die Märchenbaftigkeit und Unmöglichkeit der meisten<lb/>
in dem Buche erzählten Begebenheiten. Man denke an die Bewahrung der<lb/>
drei Männer vor dem Feuer und andere grelle Wunder, an den siebenjährigen<lb/>
Wahnsinn Ncbukadnezars, sein Leben unter den Thieren und sein Grasfressen,<lb/>
an die seltsame Weise, wie er diese seine Schicksale den Unterthanen verkündet,<lb/>
das ungereimte Verbot, daß Niemand im Reiche einen ganzen Monat lang von<lb/>
irgendjemand etwas bitten soll, als vom König, und noch mancherlei anderes.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1011"> Einige aus den Ideen des Buches z. B. über die Auferstehung der Todten<lb/>
zu nehmende Einwände gegen seine Echtheit wollen wir als weniger handgreif¬<lb/>
lich nicht hervorheben. Dagegen wollen wir auf zwei innere Widersprüche<lb/>
aufmerksam machen, welche man vergeblich durch gezwungene Auslegungen hat'<lb/>
beseitigen wollen. 1, 21 heißt es, Daniel &#x201E;sei gewesen" (d. h. habe gelebt) bis<lb/>
zum ersten Jahre des Cyrus, während er 10, 1 noch im dritten Jahre dieses<lb/>
Königs ein Gesicht schaut. Und nach Capitel 1 sollen die von Nebukadnezar<lb/>
fortgeführten Jünglinge 3 Jahre lang erzogen werden (V. 5) und werden wirk¬<lb/>
lich so lange erzogen (V. 18). während die Erzählung des Cap. 2, die hinter<lb/>
jener Erziehung liegt, schon ins zweite Regierungsjahr des Königs gesetzt wird.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1012" next="#ID_1013"> Auch sprachliche Gründe sprechen gegen das Alter des Buchs. Daß das¬<lb/>
selbe zum Theil (von 2.4 bis Cap. 7) nicht hebräisch, sondern aramäisch ge¬<lb/>
schrieben ist, würde freilich noch nicht gegen die Echtheit zeugen. Man könnte<lb/>
sich eben denken. daß ein unter Aramäern in Babel lebender Jsraelit leicht<lb/>
dazu habe kommen können, mit beiden Sprachen abzuwechseln. Erst die richtige<lb/>
Erkenntniß der Abfassungszeit unseres Buches setzt uns vielmehr in den Stand.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0356] ärgsten Drangsal besonders abtrennt, ist in den Verhältnissen seiner Zeit ganz begründet. Wollten wir übrigens die Möglichkeit einer so directen Vorhersagung der Zukunft durch einen Propheten einmal zugeben, so dürste dann doch kein Fehler in derselben sein: dann müßte das Gottesreich wirklich sogleich mit dem Sturz des Epiphanes begonnen haben! Die Späteren haben sich freilich mit unserm Buche abgefunden, indem sie seine Aussagen auf ähnliche Weise umdeuteten, wie in diesem selbst die Worte Jeremia's umgedeutet werden. Zu bemerken ist übrigens noch, daß ein Prophet im ersten Regierungsjahre des Eroberers Von Babel noch gar nicht in der Lage war. an der buchstäblichen Erfüllung der Weissagung Jeremias zu verzweifeln, indem damals die 70 Jahre noch nickt abgelaufen waren. Aber freilich zur Zeit des Verfassers mühte ein gläu¬ biger Jsraelit den Widerspruch der Verheißung mit der Wirklichkeit aufs schmerzlichste empfinden. Aus dem Gesagten folgt die Unechtheit und wirkliche Abfassungszeit unsers Buches mit Sicherheit, und wir brauchen die zahlreichen sonstigen Schwierig¬ keiten, welche der Annahme der Endeken gegenüberstehen, nur ganz kurz zu berühren. Dahin gehört die Märchenbaftigkeit und Unmöglichkeit der meisten in dem Buche erzählten Begebenheiten. Man denke an die Bewahrung der drei Männer vor dem Feuer und andere grelle Wunder, an den siebenjährigen Wahnsinn Ncbukadnezars, sein Leben unter den Thieren und sein Grasfressen, an die seltsame Weise, wie er diese seine Schicksale den Unterthanen verkündet, das ungereimte Verbot, daß Niemand im Reiche einen ganzen Monat lang von irgendjemand etwas bitten soll, als vom König, und noch mancherlei anderes. Einige aus den Ideen des Buches z. B. über die Auferstehung der Todten zu nehmende Einwände gegen seine Echtheit wollen wir als weniger handgreif¬ lich nicht hervorheben. Dagegen wollen wir auf zwei innere Widersprüche aufmerksam machen, welche man vergeblich durch gezwungene Auslegungen hat' beseitigen wollen. 1, 21 heißt es, Daniel „sei gewesen" (d. h. habe gelebt) bis zum ersten Jahre des Cyrus, während er 10, 1 noch im dritten Jahre dieses Königs ein Gesicht schaut. Und nach Capitel 1 sollen die von Nebukadnezar fortgeführten Jünglinge 3 Jahre lang erzogen werden (V. 5) und werden wirk¬ lich so lange erzogen (V. 18). während die Erzählung des Cap. 2, die hinter jener Erziehung liegt, schon ins zweite Regierungsjahr des Königs gesetzt wird. Auch sprachliche Gründe sprechen gegen das Alter des Buchs. Daß das¬ selbe zum Theil (von 2.4 bis Cap. 7) nicht hebräisch, sondern aramäisch ge¬ schrieben ist, würde freilich noch nicht gegen die Echtheit zeugen. Man könnte sich eben denken. daß ein unter Aramäern in Babel lebender Jsraelit leicht dazu habe kommen können, mit beiden Sprachen abzuwechseln. Erst die richtige Erkenntniß der Abfassungszeit unseres Buches setzt uns vielmehr in den Stand.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_283352
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_283352/356
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_283352/356>, abgerufen am 15.01.2025.