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Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. II. Band.

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und auch wohl den Lesern, auf die er zunächst rechnete, schon anderweitig bekannt
war. Es gelingt auch wirklich, Spuren von derselben sonst im Orient zu
entdecken.

Die Erzählung von Tobie ist eines der schönsten Denkmale der ganzen
jüdischen Literatur. Eine der ehrenwerthesten Seiten des jüdischen Volks, der
schöne Familiensinn, tritt in ihr mehr als irgendsonst hervor. Nicht als ob
dem Verfasser gerade die Schilderung und Empfehlung dieses Sinnes die Haupt¬
sache gewesen wäre; sein Zweck ist vielmehr zu zeigen, wie der Gerechte, mag
er noch so sehr in Noth gerathen, vielleicht gerade infolge seiner Gerechtigkeit,
dennoch stets unter der ganz besondern Obhut seines Gottes steht, der ihn
endlich aus allem Elend befreien wird. Aber was dies Buch jedem Leser von
Gemüth von jeher so anziehend gemacht hat,*) das ist besonders die Innigkeit
der in ihm geschilderten Beziehungen zwischen den Gliedern der Familie. Das
Buch ist eine Idylle, eine bloße Familiengeschichte, aber dies ist eben ein Feld,
auf dem die hebräischen Schriftsteller von Alters her glänzten (vrgl. z. B.
1. Mos. 24 und das Buch Ruth).

Die Charaktere sind sehr einfach, aber sehr richtig gezeichnet. Der fromme
Dulder Tobie. das gleichfalls fromme, aber ungeduldige und etwas zänkische
Weib: es sind wirklich Personen mit Fleisch und Blut. Wer an dem Engel
Raphael Anstoß nimmt, der muß auch die Genesis mit ihren wiederholten
Engelserscheinungen verwerfen, und wenn uns der böse Geist Asmodäus etwas
seltsam vorkommt, so müssen wir wieder die in der Zeit des Dichters herrschen¬
den Ideen berücksichtigen. Die Evangelien zeigen uns ja durchweg einen ebenso
entwickelten Dämonenglauben; denn daß es keinen Unterschied macht, ob böse
Geister vor dem Gestank verbrannter Fischeingeweide fliehn, oder in eine Sau-
heerde fahren (Matth. 8, 28), wird man zugeben müssen.

Die schlichte Erzählung ist sehr zweckmäßig disponirt; die Reden und Gebete
sind herzlich und zeigen das tiefe Gemüth des Dichters. So unrein sein Griechisch
ist, so ist er doch ein Mann von Geschmack.

Mit Unrecht hat man früher wohl die Einheit der Erzählung bezweifelt.
Allerdings konnte der Wechsel der erzählenden Personen zu einem solchen Zweifel
veranlassen, aber dieser Wechsel läßt sich auch sonst erklären. Der Erzähler
wollte anfangs den Tobie selbst sprechen lassen. So lange, von Tobie am
meisten die Rede war. ließ sich das leicht durchführen, aber sobald Sara auf
die Bühne kam, wie sie in ihrer stillen Kammer zu Gott betet, ließ sich diese
Form nicht aufrecht erhalten, und er gab sie daher auch nachher ganz auf. Es
ist eine kleine Ungleichheit, weiter nichts; die Geschichte selbst hat in sich ihre
nothwendige Einheit.



") Namentlich Luther schätzte das Buch sehr hoch.

und auch wohl den Lesern, auf die er zunächst rechnete, schon anderweitig bekannt
war. Es gelingt auch wirklich, Spuren von derselben sonst im Orient zu
entdecken.

Die Erzählung von Tobie ist eines der schönsten Denkmale der ganzen
jüdischen Literatur. Eine der ehrenwerthesten Seiten des jüdischen Volks, der
schöne Familiensinn, tritt in ihr mehr als irgendsonst hervor. Nicht als ob
dem Verfasser gerade die Schilderung und Empfehlung dieses Sinnes die Haupt¬
sache gewesen wäre; sein Zweck ist vielmehr zu zeigen, wie der Gerechte, mag
er noch so sehr in Noth gerathen, vielleicht gerade infolge seiner Gerechtigkeit,
dennoch stets unter der ganz besondern Obhut seines Gottes steht, der ihn
endlich aus allem Elend befreien wird. Aber was dies Buch jedem Leser von
Gemüth von jeher so anziehend gemacht hat,*) das ist besonders die Innigkeit
der in ihm geschilderten Beziehungen zwischen den Gliedern der Familie. Das
Buch ist eine Idylle, eine bloße Familiengeschichte, aber dies ist eben ein Feld,
auf dem die hebräischen Schriftsteller von Alters her glänzten (vrgl. z. B.
1. Mos. 24 und das Buch Ruth).

Die Charaktere sind sehr einfach, aber sehr richtig gezeichnet. Der fromme
Dulder Tobie. das gleichfalls fromme, aber ungeduldige und etwas zänkische
Weib: es sind wirklich Personen mit Fleisch und Blut. Wer an dem Engel
Raphael Anstoß nimmt, der muß auch die Genesis mit ihren wiederholten
Engelserscheinungen verwerfen, und wenn uns der böse Geist Asmodäus etwas
seltsam vorkommt, so müssen wir wieder die in der Zeit des Dichters herrschen¬
den Ideen berücksichtigen. Die Evangelien zeigen uns ja durchweg einen ebenso
entwickelten Dämonenglauben; denn daß es keinen Unterschied macht, ob böse
Geister vor dem Gestank verbrannter Fischeingeweide fliehn, oder in eine Sau-
heerde fahren (Matth. 8, 28), wird man zugeben müssen.

Die schlichte Erzählung ist sehr zweckmäßig disponirt; die Reden und Gebete
sind herzlich und zeigen das tiefe Gemüth des Dichters. So unrein sein Griechisch
ist, so ist er doch ein Mann von Geschmack.

Mit Unrecht hat man früher wohl die Einheit der Erzählung bezweifelt.
Allerdings konnte der Wechsel der erzählenden Personen zu einem solchen Zweifel
veranlassen, aber dieser Wechsel läßt sich auch sonst erklären. Der Erzähler
wollte anfangs den Tobie selbst sprechen lassen. So lange, von Tobie am
meisten die Rede war. ließ sich das leicht durchführen, aber sobald Sara auf
die Bühne kam, wie sie in ihrer stillen Kammer zu Gott betet, ließ sich diese
Form nicht aufrecht erhalten, und er gab sie daher auch nachher ganz auf. Es
ist eine kleine Ungleichheit, weiter nichts; die Geschichte selbst hat in sich ihre
nothwendige Einheit.



") Namentlich Luther schätzte das Buch sehr hoch.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_282796/490>, abgerufen am 29.06.2024.